Liebe deinen nächsten mehr als dich selbst

Die mit Anfang des Jahres 1919 neu gegründete Kommunistische Partei Deutschlands wandte sich scharf gegen den Rat der Volksbeauftragten, jener aus den unabhängigen und den rechten Sozialdemokraten bestehenden, provisorischen Reichsregierung, und warf ihr vor, die Sache der Arbeiterklasse zu verraten und sich in die Dienste des Kapitalismus und der Bourgeoisie zu stellen.

 

Das Programm der Kommunisten, ausgearbeitet von Rosa Luxemburg, dem neben Karl Liebknecht aktivsten und einflussreichsten Vorstandsmitglied, forderte die Entwaffnung der Polizei, sämtlicher Offiziere und aller nicht proletarischen Soldaten, Beschlagnahmung aller Waffen, Aufstellung einer Arbeitermiliz und Roten Garde, Errichtung eines Revolutionstribunals zur Aburteilung aller Hauptschuldigen am Krieg, Ersetzung aller Parlamente und Gemeinderäte durch Arbeiter- und Soldatenräte, Abschaffung aller Standesunterschiede, Gleichstellung der Geschlechter, sechsstündiger Arbeitstag usw. Weiterhin sah das Programm vor, alles staatliche Vermögen zu konfiszieren, die Staats-und öffentlichen Schulden nebst sämtlichen Kriegsanleihen zu annullieren, den Grund und Boden aller landwirtschaftlichen Gross-und Mittelbetriebe sowie aller Banken, Bergwerke und Grossbetriebe zu enteignen und schliesslich alles Privatvermögen von einer bestimmten Höhe an dem neuen Staat zu überstellen. Durch einen internationalen Klassenkampf - er wurde als der letzte gerechtfertigte Kampf in der Geschichte der Erde angesehen - sollten die höchsten Ziele der Menschheit erreicht werden.

Dieses Programm, von seinen Gegnern in schaurigsten Farben ausgemalt, brüskierte ausser Adel, Militär und Kapitalisten die gesamte deutsche Bürgerwelt, die ihre Vertreter veranlassten, über den Rat der Volksbeauftragten schärfste Massnahmen durchzusetzen, damit Deutschland nicht ein gleiches Chaos wie Russland beschert werde. Doch schon die ersten Massnahmen, wie zum Beispiel die Entlassung des linksgerichteten Polizeipräsidenten Berlins, forderten die Arbeiter zu Streiks und Massenversammlungen in noch nie dagewesenem Ausmass heraus und veranlassten sie, mehrere wichtige Gebäude wie das Polizeipräsidium, das Telegraphenamt und fast alle Zeitungsverlage und -druckereien zu besetzen. Gegen eine solch grosse Arbeitermasse direkt vorzugehen sah sich die provisorische Regierung ausserstande und beschloss daher, den Sozialdemokraten Noske in die nähere Umgebung Berlins zu entsenden, um alle Militärs zu einer Schlageinheit gegen die „Roten“ zu formieren. Ihnen schlossen sich in den nächsten Tagen Tausende von Freiwilligen an, die zumeist von radikalstem Ingrimm gegen die revolutionierende Arbeiterklasse erfasst waren. Als der kommunistische Revolutionsausschuss von den erst heimlichen, dann immer offenbarer werdenden Vorbereitungen des bürgerlichen Lagers erfuhr, rief er in seinem Kampfblatt „Rote Fahne“ sowie durch Plakate und Flugschriften die Arbeiterschaft zum bewaffneten Widerstand und zur Entwaffnung aller Gegenrevolutionäre auf. In der Nacht vom zehnten zum elften Januar wurden von den einmarschierenden regierungstreuen Regimentern Geschütze und Minenwerfer um das Verlagsgebäude des sozialdemokratischen „Vorwärts“ aufgestellt, in welchem sich über vierhundert „rote“ Besetzer mit Handfeuerwaffen und einigen Maschinengewehren verschanzt hielten. Um acht Uhr morgens eröffnete die „Gegenrevolution“ das Feuer.

 

Gegen die wirkungsvolle Minenbombardierung waren die Besetzer machtlos. Die Geschosse rissen nicht nur den in Stellung gegangenen Verteidigern Kopf und Glieder ab, sie steckten auch die Räume in Brand und durchschlugen das gesamte Vordergebäude bis in das Kellergewölbe. Über hundert Menschen fanden den Tod. Der Rest der Frauen und Männer ergab sich anderthalb Stunden nach Kampfbeginn. Als sie, die vom Schock und von Verwundungen Gezeichneten, in die nahegelegene Dragonerkaserne überführt wurden, entlud sich der Zorn der bürgerlichen Volksmasse, und Spucke, Steine, Peitschenhiebe hagelten auf jene knapp dreihundert „Spartakisten“ und „Söldner Russlands“, die zudem von den ihr Mütchen kühlenden Begleitsoldaten mit Gewehrkolben und Peitschen aufs Grässlichste misshandelt wurden. Sie alle sperrte man in einen Stall auf dem Kasernenhof. Unter ihnen befinden sich auch Lilia Schmidt und ihre Freundin Dagmar, die beide als Hilfssanitäterinnen am Vortage mit in den „Vorwärts“ eingezogen waren, um ihren kämpfenden Genossen beizustehen.

 

Wir beide wollen uns wieder einmal entfärben, um mittels unserer Farben verschiedene Personen anonym zu Wort kommen zu lassen.

 

Mir ist es recht so, kann es mir doch nie bunt genug zugehen.

 

Dagmar: Lilia, komm! Diesem Mann hier müssen wir zuerst helfen. Gut, dass du deinen Verbandskasten noch hast. Der meine wurde mir ja leider von diesen uniformierten Fettwänsten abgenommen.

 

Lilia: Wir besitzen nur noch ein wenig Mull, Jod und Pflaster. Wir haben keine Binden mehr.

 

Dagmar: Ich werde alle Schals einsammeln. Unsere Genossen werden trotz der Kälte in diesem ungeheizten Stall alle solidarisch handeln.

 

Lilia: Ich bin bereit, meine Bluse in Streifen zu schneiden. Ja, für den Sieg der Arbeiterklasse würde ich auch mein Leben opfern. Genosse, dich haben aber diese Bluthunde ganz schön zugerichtet.

 

Arbeiter: Meine beiden Beine sind von Handgranatensplittern zerfetzt. Au! Vorsicht! Diese Schweine! Hätten wir doch ebenfalls schwere Geschütze gehabt, wir hätten dies Regimentergeklüngel zu Paaren getrieben.

 

Lilia: Es war gut, dass wir uns nicht kampflos ergeben haben. Wir mussten beweisen, dass wir keine Feiglinge sind. Wir hatten der übrigen Arbeiterschaft Vorbild zu sein.

 

Arbeiter: Du hast recht, Genossin. Für den Sieg des Proletariats würde ich auch gerne meine Beine opfern. Doch fürchte ich, dass wir gegen die bürgerlichen Kanonen unterliegen werden. Dann wäre alles umsonst gewesen.

 

Lilia: Genosse! Nichts ist umsonst, was an Einsatz für die Befreiung der Unterdrückten geschieht. Irgendwann wird der Sieg der Weltrevolution gekommen sein. Er ist eine historische Folgerichtigkeit. Wir dienen diesem Gesetz der geschichtlichen Entwicklung, dessen Ziel es ist, alle Menschen zu gleichberechtigten Brüdern und Schwestern in einer Gesellschaft zu formen, in der es weder Unterdrücker noch Unterdrückte gibt. Höchster Idealismus im Interesse der Allgemeinheit, das ist unser kategorischer Imperativ.

 

Arbeiter: Was ist denn das? Die ist wohl keine aus unserer Arbeiterschaft. Dafür spricht sie ein viel zu gepflegtes deutsch. Ja, viele Idealisten aus der bürgerlichen Klasse haben sich unserer Sache angenommen. Aus Liebe zu uns, den Ausgebeuteten des Kapitalismus, haben sie ihre Bourgeoisie verlassen und setzten nun sogar ihr Leben für uns ein. Unsere wichtigsten Parteiführer kommen aus dem bürgerlichen Lager. Das sind wahre Menschen, die gegen alle Ungerechtigkeiten zu kämpfen entschlossen sind. Ja, danke. Das hast du gut gemacht. Du bist ein tapferes Mädel. Geh jetzt mal zu dem dort drüben. Der hat einen Backenschuss.

 

Ob die uns auch erschiessen? Vielleicht die Männer. Aber uns Frauen nicht. dasswürde ihr Ruf zuschanden kommen. Draussen auf dem Hof haben wir die sieben Erschossenen liegen sehen. An der Kleidung habe ich gleich erkannt, dass es unsere Delegierten waren, die wir aus dem „Vorwärts“ an die Beschiesser gesandt hatten, um über eine Übergabe zu verhandeln. Mein Rücken schmerzt. Ich kann in dieser Dunkelheit gar niemanden mal nachsehen lassen, inwieweit alles blau ist. Dieses Dragonerschwein hat mir den Gewehrkolben so hart in den Rücken gestossen, dass ich der Länge nach hinflog. Dann wurde mir ein Stiefel ins Gesicht getreten. Wenn ich mich doch nur auf etwas Weiches legen könnte. Kein Stroh, kein Licht, kein Ofen, kein Stück Brot. Werden die uns auch erschiessen? Au! Pass auf, Genossin! Du bist mit deinem Fuss an meinen zerschundenen Rücken gekommen.

 

Dagmar: Entschuldige, Genosse! Aber es ist hier alles so eng und dunkel. Hast du einen Schal, den du als Notbinde abtreten kannst?

Hab’ ich nicht. Aber ich hab’ noch ein saubres Taschentuch. Hier!

 

Dagmar: Das könnte ich jetzt selbst gut gebrauchen, denn meine Peitschenstriemen im Gesicht fangen wieder an zu bluten. Ob ich wohl ewig davon Narben tragen werde? Ganz egal. Für den gerechten Kampf des Proletariats gegen das dekadente Bürgertum und die Kapitalistenclique opfer’ ich auch gerne eine Hand. Doch mein Leben will ich behalten. Ich bin noch nicht so fanatisch wie Lilia. Sie hat mit ihrer ganzen Vergangenheit gebrochen. Sie verliess ihr bürgerliches Elternhaus in Danzig, um ihr Leben für den Sieg der Arbeiterklasse einzusetzen. Mich hat sie getadelt, dass ich einen Freund habe, der nicht mit uns kämpft. Ihr Idol ist Rosa Luxemburg. Sie scheint Rosas Reden alle auswendig gelernt zu haben. Genosse! Hast du auch noch etwas, das wir zum Verbinden der Verwundeten verwenden könnten?

 

Lilia: Dieser Genosse hat schon viel Blut verloren. Sein Kopfverband ist völlig durchnässt. Haben wir noch einen Schal?

 

Dagmar: Nein.

 

Lilia: Ich werde meine langen Wollstrümpfe ausziehen.

 

Dagmar: Du holst dir bei dieser Kälte den Tod.

 

Lilia: Macht nichts! Ich werde keine eigenen Opfer scheuen. Rosa hätte genauso gehandelt wie ich. Für mich ist sie ein heiliger Mensch, ja, heiliger als Jesus. Dieser predigte nur: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Aber Rosa lebt und handelt unter dem Motto: Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst. Sie ist wahrhaftig eine Weltbürgerin, denn ihr geht es um die Befreiung aller Menschen dieser Welt von Unterdrückung und Knechtschaft. Sobald Deutschland sozialistisch geworden ist, wird sie bestimmt in ein anderes Land der Unterdrückung gehen, um dort unter Einsatz ihres Lebens die Menschen aus ihrem Sklavendasein zu befreien.

 

Rosas Liebe gilt allen Menschen, die ausgebeutet werden und hungern müssen, ganz gleichgültig welcher Hautfarbe, Religion und Nationalität. Ihr Kampf richtet sich gegen alle Egoisten, Rauf- und Raubgierigen, die sich etwas Besseres dünken oder besser leben wollen als das „gemeine“ Volk. Rosa ist der Rechtsanwalt aller Ausgenutzten und Darbenden. Ihr will ich nachstreben und würfe man mich ebenfalls in einen Kerker. Ich werde für den Sozialismus kämpfen, bis er auf der ganzen Welt gesiegt hat. Und mein Vater, der spiessbürgerliche Musiklehrer, wollte aus mir eine Konzertpianistin machen! Ich sollte einer satten Bourgeoisie vorspielen, während draussen in den Arbeitersiedlungen die Bevölkerung hungerte. Als mir diese Absurdität bewusst geworden war, dassgab es für mich nur noch eine Alternative: Koffer packen und ab nach Berlin in die Frontstadt der deutschen Revolution. Imperialisten und Kapitalisten haben den Weltkrieg verursacht. Millionen von Arbeitern und Bauern mussten an den Fronten ihr Leben lassen, während jene sich auch noch während des Krieges am Volkseigentum bereichert haben. Der Leidtragende ist immer der „kleine Mann“. Er muss für jene Unterdrücker sein Leben opfern, während sie ihr Leben zu retten wissen. Aber jetzt sind wir stark geworden. Am Sonntag und Montag fanden sich jeweils über eine halbe Million von Arbeitern in der Siegesallee ein, um durch diese gewaltlose Demonstration die Regierung darauf hinzuweisen, dass man ihren Forderungen nach Sozialisierung nachkommen müsse. Wenn wir diesen Kampf jetzt nicht gewinnen, dann werden bald die Kapitalisten und Imperialisten, diese Schlotbarone und Junkercliquen, wieder die Macht in den Händen halten. Sie werden wiederum die Arbeiter und Bauern aussaugen, werden sich an deren Arbeitsleistung bereichern und in ihrer Habgier das Volk notwendigerweise in einen erneuten Krieg stürzen. Das darf nicht sein. Ich werde mein Leben dransetzen, um dabei mitzuhelfen, allen Kriegstreibern das Handwerk zu legen, um einen erneuten Krieg zu verhindern. ... Die Tür wird von aussen aufgeriegelt. Man stösst eine junge Frau in unseren Stall.

 

Lasst uns raus! Wir haben Hunger! Wir frieren! Was habt ihr mit uns vor?

 

Offizier: Ihr werdet alle erschossen, ihr dreckiges Proletenpack!

 

Auch die Frauen?

 

Offizier: Alle. Ihr glaubtet wohl, Deutschland in einen Bürgerkrieg stossen zu können? dasshabt ihr euch aber geirrt. Wir werden mit euch kurzen Prozess machen, und dann hat alles Revoltieren der Arbeitermeute ein Ende. Wenn dieser Mob an die Regierung käme, würde er mich sofort von meinem Gut vertreiben und mich vor die Hunde jagen.

 

Uns wollen sie auch umbringen! Hört auf zu flennen, ihr Weiber! Also doch! Wir werden auch erschossen! Das haben wir den Sozialdemokraten zu verdanken. Erst verraten sie die Sache der Arbeiter und unterstützen den imperialistischen Krieg, und jetzt lassen sie alle revolutionierenden Arbeiter ermorden, diese Verräter! Noch ist nicht alles verloren! Unser Revolutionsausschuss wird die Arbeitermilizen mobilisieren und uns in wenigen Stunden hier herausholen. Meinst du wirklich? Natürlich! Wenn es um die Errettung von Klassenkämpfern geht, will keiner zu Hause bleiben. Die kommen alle. Auf eine halbe Million Arbeiter werden diese kapitalistischen Freischärler nicht zu schiessen wagen. Wenn aber diese Massenmörder wieder Minen- und Granatwerfer einsetzen, dann wird sich alles verflüchtigen. Ja, sie werden Reissaus nehmen. Dann ist es aus mit unserer Revolution. Was wird meine Frau mit den vier Kindern machen, wenn ich erschossen werde? Ich sterbe gerne einen Märtyrertod, wenn ich weiss, dass unsere Ziele sich noch durchsetzen werden. Das ist doch klar. In wenigen Jahren wird auf der ganzen Erde die rote Flagge wehen. Genossen! Habt Mut! Wir sind hier nicht allein. Die Rote Garde wird uns bald befrein. Was soll sie denn mit den paar mickrigen Maschinengewehren ausrichten? Keine Macht unserer Proletarier kann uns hier herausholen. Ja, wir hätten warten sollen, bis wir über genügend Waffen und Geschütze verfügten. Wir hätten erst die Waffenlager alle stürmen sollen. Was nützt alles Krakeelen? Jetzt ist sowieso alles aus. Ja, wir haben unsere grosse Chance verspielt.

 

Lilia: Genossen und Genossinen! Die Chance ist nie verspielt. Es kommt immer auf eure innere Festigkeit und Überzeugung an, das unumstössliche Ziel, die soziale Gerechtigkeit auf Erden, verwirklichen zu wollen. Nur der Sozialismus kann den ewigen Frieden garantieren. Wir sterben im Kampf um Frieden und Freiheit. Wir wollen mit Stolz unserem Tod entgegensehen, denn wir opfern bereitwillig unser Leben für den Sieg des Sozialismus. Die nach uns kommen, werden sich unserer mit Stolz erinnern. Der Sozialismus wird siegen! Lang lebe der Sozialismus!

 

Noch am gleichen Abend wurden die Eingepferchten in eine andere Kaserne überführt und am nächsten Morgen unverhofft freigelassen. Am fünfzehnten Januar verhaftete man Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und brachte sie auf meuchelmörderischste Weise um. Der russischen Oktoberrevolution sollte kein Pendant auf deutschem Boden beschert sein. Die deutsche Revolution wurde schon erstickt, bevor sie wirklich ausbrach.