Unterwegs nach Neustadt

Wie ist es dem Stockgänger eigentlich geglückt, seine Kinder aus Thüringen nach dem Westen zu bringen?

 

Unserem Glückspilz und emporstrebenden Dichterkollegen ist so manches geglückt, was anderen bestimmt missglückt wäre, so es für sie nicht ebenfalls vorgesehen gewesen wäre. Aber dass du schon einmal fragt, wollen wir uns den Kapiteln seiner und der Kinder Flucht zuwenden.

 

Es ist der dritte Mai 1945. Der Führer ist seit vier Tagen tot. Ganz Deutschland ist bis auf wenige Landstriche von den alliierten Truppen besetzt. In wenigen Tagen wird das Grossdeutsche Reich offiziell kapitulieren. Noch liegt der braune Körper auf dem Totenbett und atmet kaum vernehmbar. Seine „schnurrbärtige“ Seele aber ist schon entstiegen. Noch wenige Züge, dann ist das Koma der nationalsozialistischen Ära ausgehaucht, und die schauerliche, mit offenen Wunden und eiternden Geschwüren bedeckte Leiche kann verscharrt werden. Wer wird an ihrem Grabe stehen und ihr die letzte Ehre erweisen?

 

Auf der durch Panzerketten, Artillerie- und Tieffliegerbeschuss versehrten, schlaglöchrigen Strasse nach Naumburg hoppelt ein schwerbeladener weisser Volkswagen, auf dessen Dach, Hinter- und Vorderteil und beiden Türen jeweils ein grosses rotes Kreuz markiert ist. Sein Fahrer trägt eine lederne U-Bootsoffiziersjacke, auf deren rechtem Ärmel sich eine Rotkreuzarmbinde abhebt (richtig, es ist unser gesteuerter Steuerer). Er streicht mit einer Hand über sein linkes Knie, das unter der Marinehose mit einem Verband umwickelt ist: Das tut noch ganz schön weh, besonders beim Kuppeln. Letzte Woche wurde es zum zweitenmal operiert. Ich sollte eigentlich im Bett liegen und es auskurieren. Aber ich muss schnellstens nach Bäringen, um meine Kinder nach Hessen in Sicherheit zu bringen, denn wie ich durch heimliches Abhören der Feindsender schon vor Wochen vernommen habe, werden die Amerikaner das nun besetzte Sachsen und Thüringen wieder verlassen müssen und an die Russen zu übergeben haben. Und Stalin wird wahrscheinlich seine erbeuteten Teile Russland eingliedern oder doch zumindest eine kommunistische Diktatur errichten, in der ich meine Dichterpläne nie verwirklichen könnte, denn das freie Wort, der kühne dichterische Gedanke, ja jedes eigenwillige Produkt des nie sich „gleichschalten“-lassenden Genies wird wie bei Hitler unterdrückt sein. Wie habe ich mich nach Freiheit gesehnt. Ich darf die nationalsozialistische mundtotmachende Unterdrückung nicht mit einer stalinistisch-bolschewistischen vertauschen. Ich muss meinem in mir drängenden Gefühl, der Dichtung zu leben, nachkommen, und zwar in einem freien Deutschland. Und meine Kinder darf ich nicht verlassen. Sie müssen mit. Es werden harte Zeiten für uns alle kommen. Aber um der Freiheit willen müssen wir auch Schweres zu ertragen bereit sein. Bisher habe ich ja grosses Glück gehabt. Dreimal bin ich seit meiner Abfahrt vor vier Tagen aus Flensburg von Engländern angehalten worden. Jedesmal konnte ich mich damit herausreden, für ein Krankenhaus dringend in der Nachbarstadt überlebensnotwendige Medikamente holen zu müssen. Ja, mein Rotkreuz-Auto bringt mir Glück. Das war doch eine geniale Idee von mir (das „mir“ bezieht sich auf mich, den Autor), einen alten Armeewagen mit weisser Farbe zu übermalen und mit fünf roten Kreuzen zu versehen.

In dem engen Gefährt sitzen neben unserem Rot-Kreuz-Ritter zwei und hinter ihm auf dem Rücksitz drei Flüchtlinge, letztere mit zwei kleinen Kindern auf dem Schoss. Eines jeden Gesicht ist sorgenvoll: Was wird werden? Wohin werden wir einmal gelangen? Leben mein Bruder, Vetter, Schwager, meine Tante, Nichte noch? Bis unter das Kinn gestaut halten sie ihre verschnürte und gebündelte Habe auf den Knien. Einige Gepäckstücke sind mit Bindfäden an den Aussentüren befestigt, und auf dem Dach stapeln sich festgeschnallte Koffer und Pakete. Der eine der Flüchtenden will zu Frau und Kind nach Plauen, die andere, eine Hamburgerin, reist zu ihrer Mutter nach Weimar. Doch die drei übrigen Mitfahrer haben nur eines im Sinn: Nach dem Westen! Nur dem Russen nicht nochmals in die Hände geraten! Denn sie selbst haben am eigenen Leibe die tatarischen Auswüchse zu spüren bekommen. Als der Erste-Hilfe-Wagen (wir sollten ihn besser einen Letzte-Hilfe-Wagen nennen) kurz vor Naumburg angekommen ist, sagt sein Steuermann in der durch einen seiner Glücksfälle erstandenen U-Bootsjacke: „Sie sollten jetzt schon lieber hier aussteigen, denn im Ort werde ich bestimmt wieder angehalten und kontrolliert werden. Wer mit mir weiter in Richtung Halle fahren will, warte am anderen Ausgang der Stadt auf mich.“ Hat man mir doch bei der letzten Kontrolle in Goslar aufgetragen, auf keinen Fall Personen zu befördern, dass ich ja dringend Medikamente zu holen hätte, was keinen weiteren Aufschub dulde. Mein Benzintank ist auch bald leer. Was dann?

 

Und kaum fährt das um einige Zentner erleichterte Sanitätsauto, an den vielen amerikanischen Armeewagen vorbeikommend, in die Domstadt ein, so wird es auch schon von einer Militärstreife angehalten, die fürbass erstaunt ist, in dem Rot-Kreuz-Vehikel einen uniformierten Feind - wir befinden uns ja immer noch im Krieg! - zu sehen. Unser Kreuzfahrer entsteigt nach Aufforderung seinem mit mehr als dreissig Pferdestärken gekräftigten Gefährt und fragt die Behelmten und Bewaffneten auf englisch: „Where is your officer?“ Ich muss alles versuchen, um für das amerikanisch besetzte Thüringen und Sachsen eine Reiseerlaubnis zu erhalten. Benzin benötige ich auch.

 

Den forsch Fragenden und offenbar zu respektierenden Humpelnden begleitet man in ein mit dem amerikanischen Sternenbanner beflaggtes Haus, wo er dem diensthabenden Captain hackenknallenderweise angekündigt und vorgestellt wird. Obwohl das nun folgende Gespräch auf englisch geführt wird, wollen wir es für die Zwecke unseres Buches - das ja sowieso nur eine gewagte Übersetzung des versuchten Übersetzens aus dem Unübersetzbaren darstellt -, ins deutsche übersetzen.

Captain: Wer sind Sie?

Molar: Ich bin Dr. Bröckelberger. Ich muss so schnell wie möglich weiter, um eine dringende Operation auszuführen.

 

Warum lässt du ihn lügen?

 

Nun, das Wort Operation ist natürlich doppeldeutig und hat seine Richtigkeit. Ausserdem gestehe ich mir als Autor das Recht zu, ein wenig mit Worten zu jonglieren, besonders dann, wenn es zum Segen meines Schützlings gereicht und somit keiner anderen Seele Schaden stiftet.

 

Captain: Darf ich Ihre Papiere sehenl

 

Molar: Ich habe nur noch meinen Führerschein. Bitte, sehen Sie selbst. dasssteht es geschrieben: D o k t o r  Bröckelberger. Hoffentlich bemerkt er nicht, dass ich kein Doktor der Medizin bin.

 

Captain: Vielleicht ist es ein gefälschter Führerschein, und dieser Herr - obwohl er gebildet ist, denn er spricht doch ganz fliessend Englisch - könnte ein SS-Offizier sein. Würden Sie mir mal bitte Ihren linken Oberarm freimachen.

 

Molar: Selbstverständlich! Wieso das? Will er sehen, ob ich Uhren gestohlen habe?

 

Captain: Ich kann keine eintätowierte SS-Blutgruppenmarkierung sehen. (Die SS waren die einzigen deutschen Truppen, denen die jeweilige Blutgruppe eintätowiert wurde.) Nun, vielleicht sagt er ausnahmsweise die Wahrheit. Heutzutage lügen nahezu alle deutschen einem etwas vor.

 

Molar: Haben Sie bitte Verständnis und helfen Sie mir, schnellstens weiterzukommen. Ich möchte Sie bitten, mir eine Bescheinigung auszustellen, dass ich ungehindert an meinen Operationsort fahren kann. Bedenken Sie bitte, dass es eilt. Jede Verzögerung kann verhängnisvoll werden.

 

Captain: Wo müssen Sie denn operieren?

 

Molar: In Neustadt! Wieso sage ich Neustadt und nicht Eisenach oder Hersfeld?

 

Warum hast du ihm einen unerwünschten Ort zugeraunt?

 

Es gibt in Deutschland über dreissig Neustadts. Mit einer jetzt bei der Abfassung ein wenig beeinflussten Fahrbewilligung nach dem genannten Ort wird unser Günstling in die meisten der für seine „Operationen“ notwendigen Gebiete reisen können. Unserem „Freizügigen“ wird es eine Freude werden, wenn er dieses „seines“ Geniestreichs im nachhinein gewahr wird. Warum lässt du ihm nicht das Bewusstwerden „seines“ genialen Einfalls mittels unseres beeinflussenden Vermögens zukommen?

 

Ich weiss doch gar nicht, wie ich es beginnen könnte.

 

Nun, ich werde dir dabei schon zur Seite stehen. Verlasse dich auf mich.

 

Am selben Abend sitzt unser Glücksritter des unsichtbaren Ordens in einer Scheune. Seine alten und neuen Mitfahrer - es gibt jetzt überall genug von solchen Notreisenden - haben sich schon ins Stroh gelegt und schlafen. Er sitzt an der Feuerstelle, wo man sich vorher noch Eier gebraten hat, die unser falscher, jedoch in die Tiefen getauchter U-Bootsmann organisiert hatte. Was habe ich für ein Glück! Und den Benzintank haben  s i e mir auch noch aufgefüllt (mit unserer Unterstützung). Ja, morgen abend kann ich in Halle sein. Ich sollte auch auf diesem Umweg nach Bäringen meine Schwägerin in Jena besuchen und ihr und ihrem Mann, so er sich dort befindet, zureden, mit der Tochter ebenfalls in den Westen zu flüchten, bevor der Russe die Grenzen zuriegeln wird. Ja, vielleicht bin ich morgen abend schon in Jena? Dann kann ich doch erst einmal richtig ausschlafen, mich baden und vor allem mein Knie frisch verbinden. Ich muss doch nochmals meinen Reisefreibrief lesen. Ich kann es gar nicht fassen. Warum habe ich Neustadt als Bestimmungsort angegeben? Es gibt doch bestimmt in jeder Ecke Deutschlands... Mensch! Was für eine geniale Idee! Natürlich! Mit dieser Bescheinigung kann ich in alle von den amerikanischen Truppen besetzten Teile Deutschlands reisen. Welch trefflicher Einfall! Dem Himmel sei Dank! (Unsereiner wird oftmals „angehimmelt“.) Was bin ich doch für ein Glückspilz.