Der "Volltreffer"

Kurz nach ein Uhr ist für Hermann und Wahrfried am Samstag die Schule beendet, während Edelgard schon zwei Schulstunden früher nach Hause gehen konnte. Beiden hatte Lilia, wie am Samstag üblich, eine Einkaufstasche samt Milchkanne mitgegeben, versehen mit einer Liste der benötigten Lebensmittel, die jetzt im Warenladen am Marktplatz eingepackt werden. Hermann nimmt, wie gewohnt, die bis oben mit entrahmter Milch gefüllte Kanne, während Wahrfried die dickbäuchige Tasche zu schleppen hat.

 

Wahrfried: Warum trägst du nicht einmal die schwere Tasche und gibst mir die Milchkanne?

 

Hermann: Ich muss beweglicher sein, wenn wir angegriffen werden. Mit der Tasche kann ich uns nicht verteidigen. Aber mit der Kanne kann ich mich im Kreise drehen und uns jeden Angreifer vom Halse halten. Ein Anführer darf nicht Lastträger sein, das ist doch ganz klar. Die “Meute” steht doch bestimmt wie fast jeden Samstag wieder beim “Schützen” (Meersburger Gasthaus) und wartet darauf, uns zu verwamsen (verhauen). Vorletzten Samstag habe ich es ihnen aber gezeigt. Schade, dass du nicht dabei warst. Der Schreiner-Ludwig hat einen Stein an den Hals gekriegt. Das war so ein richtiger Volltreffer. Der hat sich gleich hinsetzen müssen. Den habe ich “abgeschossen” wie einen Panzer mit der Panzerfaust. Vielleicht habe ich heute wieder soviel Glück.

 

Wahrfried: Warum lässt du dich immer nur auf ihre Schlachten ein? Wenn du dich nicht wehren würdest, dann würden sie auch die Lust verlieren, dich anzugreifen.

 

Hermann: Du sprichst so richtig wie ein Feigling. Ein deutscher lässt sich nicht mit Steinen bewerfen, ohne dass er zurückschlägt.

 

Wahrfried: Aber das sind doch auch deutsche!

 

Hermann: Nein, das sind Bastarde. Die kämpfen doch nur, wenn sie in der Übermacht sind. Wir deutschen* haben doch im Krieg auch gegen die ganze Welt gekämpft.

 

Wahrfried: Das war Dummheit! Deswegen haben wir ja auch verloren.

 

Hermann: Nein. Wir hatten eben zu viele Hasenfüsse wie du, sonst wären wir jetzt die Herren von der ganzen Welt.

 

Wahrfried: Das heisst, wir würden andere Völker unterdrücken und ihnen ihre Freiheit nehmen.

 

Hermann: Red keinen Unsinn. Was ist Freiheit? Gibt es doch gar nicht! Der Stärkere unterdrückt den Schwächeren, und es gibt immer irgendwo einen Stärkeren. Warum hätten wir nicht jener Stärkere sein sollen, wo wir doch wirklich einen gerechtfertigten Anspruch darauf hatten?

 

Wahrfried: Wir haben genauso viele Hasenfüsse wie jedes andere Land.

 

Hermann: Du spinnst wohl! Glaubst du, mit so vielen Hasenfüssen hätten wir beinahe den Krieg gewonnen? ... Hast du dassvorne gesehen? dasshat sich was bewegt! Das sind sie! Sie verstecken sich hinter der Mauer und dem Nussbaum. Sie wollen einen Überraschungsangriff auf uns machen. Los! Stelle deine Tasche hin und sammle Steine!

 

Wahrfried: Hermann, höre doch! Besser wir gehen und machen einen Umweg nach Hause. Besser, wir kriegen zwei Würfe in den Rücken, als dass wir uns ihnen direkt stellen. Wir könnten doch jemandem von ihnen ein Auge auswerfen oder selbst eins verlieren.

 

Hermann: Nein! Ich bin kein Feigling. Wenn du wiedermal Schiss in der Hose hast, dann gehe doch deine Umwege! Ich werde kämpfen wie ein deutscher Soldat an der russischen Front. Die will ich das Fürchten lehren. Denen schmeiss’ ich ein Loch in den Kopf. ... Sieh! Jetzt kommen sie hervorgestürzt! Die Schlacht beginnt. Wo ist die Munition?

 

Wahrfried: Ich kann ihn doch nicht alleine lassen. Ich muss die anderen anrufen, damit s i e  doch wenigstens aufhören. Hört doch auf! Warum verfolgt ihr uns denn? Wir haben euch doch nichts getan!

 

Antwort: Pisspott! Halt’s Maul! Wir können euch eben nicht leiden!

Und schon ist die Schlacht in vollem Gange. Den meisten Geschossen ist gut auszuweichen, kommen sie doch durch die Luft in einem Bogen hernieder. Gefährlicher sind die Würfe von der Seite. Wahrfried hebt keinen Stein auf. Aber er steht hinter einem Baum und warnt seinen Bruder: “Pass auf! Dort von hinten wirft einer! Komm hierher! Hier bist du geschützt!”

Aber Hermann hört in seinem Schlachteifer nicht auf ihn. Die Milchkanne hat er abgestellt, um besser kämpfen zu können. Und dann geschieht es. Die blecherne Kanne erhält einen “Volltreffer”, und ihr Inhalt ergiesst sich über den Weg. Von der Feindseite ertönt jubelndes Gebrüll. Wahrfried versucht noch, das Ausfliessen der Milch durch schnelles Hochheben der Kanne zu verhindern. Vergeblich.

 

Wahrfried: Jetzt haben wir übers Wochenende keine Milch, und der Laden ist auch schon geschlossen. Was wird Mami wohl sagen?

Doch Hermann, durch diesen weissen Verlust sichtlich erbost, geht nun, Wahrfried zurücklassend, zum “Grossangriff” über und kann seine Gegner, die ohnedies mit dem Erfolg ihrer Geschosse für heute zufrieden sind, in die Flucht schlagen. Wahrfried ergreift die schwere Einkaufstasche und die leere Blechkanne und macht sich nun auf den freigekämpften Weg ins Sommertal. Sein älterer Bruder kommt ihm bald hinterhergerannt: “Denen habe ich es aber gezeigt. Dem Metzger-Emil konnte ich noch einen Stein ins Kreuz werfen. Das war eine erfolgreiche Schlacht.”

 

Wahrfried: Aber wir haben unsere Milch verloren.

 

Hermann: Man muss sich über die Siege so lang wie möglich freuen und nicht schon an die Niederlagen denken, bevor sie weh tun. ... Du lobst mich ja gar nicht? Bin ich nicht ein Held gewesen?

 

Wahrfried: Ich wünschte, du würdest das Heldentum vergessen können. Weil wir deutsche im Krieg genauso kurzsichtige Helden waren wie du, sind wir jetzt in dieses ganze Elend der Nachkriegszeit geraten, und viele dieser Helden haben wie wir ihre Heimat verloren.

 

Hermann: Du redest mal wieder “Gedörr”. Dieser alte Blindschleicher übt auf dich einen schlechten Einfluss aus. Du solltest dich mehr auf meine Seite stellen. Ich weiss, wie man sich im Leben durchzuhauen hat...

 

Wahrfried: ... und durchgehauen wird. Das wird doch nur wieder das Ende von allem sein.

 

Hermann: Denk doch jetzt nicht schon an die Senge (Schläge). Hast wohl schon wieder die Hosen voll, was? Wahrfried kriegt ja doch, wenn’s hoch kommt, nur einen Klaps. Onkel Wolf wird mich wieder übers Knie legen. Aber ich bin es ja schon gewöhnt. Um so mehr werden meine Rachegeister angestachelt, die mir dann beim nächsten Kampf gegen eine Jungenbande nach besten Kräften helfen werden.


Und es kommt, wie es zu kommen hatte. Hermann erhält die Hundepeitschenprügel. Beide Dichtersöhne müssen Samstag nachmittag hart arbeiten und erhalten, nebst Stubenarrest am Sonntag, auch noch während der ganzen zwei Tage Redeverbot und Essensentzug. Auch Edelgard darf mit keinem der beiden sprechen.

 

Aber sie bricht am Sonntag das Gebot und flüstert Wahrfried zu: “Kann ich irgend etwas für dich tun?”

Doch jener schüttelt nur den Kopf und blickt weiterhin traurig auf den Boden. Wenn doch nur Papi bald käme!

 

Warum bezieht fast immer nur Hermann Schläge, während Wahrfried selten gezüchtigt wird?

 

Es gibt keine Zufälle. Von dieser Tatsache ausgehend, kannst du dir mehrere Gründe zurechtlegen. Aber sagen wir mal vorläufig folgendes: Vor Wahrfried hat Wolf eine gewisse Scheu, dassjener etwas Unerklärliches an sich hat, was ihn zurückhält. Jedoch fehlt dieser Schutz bei Hermann. Der immer “schlagfertige” Onkel fühlt sich geradezu herausgefordert, den ältesten Molarsohn zu verhauen. Ausserdem ist ja Wahrfried Lilias Lieblingskind. Und Wolf wird sich hüten, mit ihr zu brechen, ist sie doch seine einzige Schutzpatronin.