Zwei Diener am Volk

Am folgenden späten Morgen erwacht unser sich nachts um die Poesie bemühende Langschläfer und denkt an sein gestriges hochbedeutendes Erlebnis zurück. Als ich so dasass, während sie Beethoven spielte, dasswar es mir, als ob ich die ganze Szene schon irgendwo erlebt hätte. Vielleicht war es nur ein Traum. Aber es kam mir alles so überwirklich vor. Ja, ich war wie in Trance. Ich befand mich hochgehoben in eine andere Sphäre. Und sie erschien mir wie ein Engelwesen. Ich glaubte sogar, um ihren Kopf herum einen hellen Schimmerkranz zu sehen. Sicher ist alles nur Einbildung. Aber es war erhaben. Und meine Liebe zu Maria wurde auf einmal erhöht, veredelt, bereichert. Seit gestern nachmittag fühle ich mich gewandelt, als ob ich ein anderer Mensch geworden wäre. Kommen solche hehren Frauen vielleicht aus dem Grund zur Welt hernieder, um die Menschen und besonders die Künstler an eine höhere und harmonischere Welt zu gemahnen, um mittels ihrer Ausstrahlungskraft in uns die Sehnsucht nach jenem uns noch unbekannten oder vergessenen Elysium zu fördern? Ja, sind diese Himmelstöchter - ihnen unbewusst - Missionarinnen und Repräsentantinnen einer höheren geistigen Welt? Und geben sie nicht vor allem uns Dichtern durch ihre Schönheit und ihre reinen Tugenden neue Kräfte, und rufen sie uns nicht in unserem inneren Streben auf, das Erahnte, Erfühlte, Erschaute niederzuschreiben, um andere Menschen teilnehmen zu lassen, indem deren Leben durch die mitgeteilte höhere Ahnung bereichert wird? Will mir doch scheinen, als geschehe alles irdisch-schöpferische Kreieren allein aus der Sehnsucht heraus, zurück in eine höhere, heilere und harmonischere Welt zu gelangen. Gilt dies wirklich für alle Dichter? Aber nein. Dies sind “seine” Gedanken und teilweise auch die Einflüsterungen derer, die sich ihm nahe fühlen. Gibt es etwa noch andere Gedankenprojektoren ausser dir und mir, die ihn beeinflussen? Es gibt noch einige sogenannte Schutz- und Trutzgeister, die ebenfalls ihre Aufgaben an ihm zu erfüllen haben. Aber in dem, was unser Buch angeht, haben wir Vortritt, wenn wir auch den Einfluss der anderen keineswegs leugnen wollen und können. Im Gegenteil.

 

Molar: Ja, auch unsere Sehnsucht nach dem antiken Griechenland entspringt doch dem Ahnenwollen, dass damals sich das Göttliche im Irdischen widergespiegelt habe, wovon der Griechen hehre Gedanken in Gesetzgebung, Philosophie und Dichtung, ihre gewaltigen Bauten und Plastiken reichlich Zeugnis ablegen. Wie sagte der grosse An-die-Freude-Dichter (Schiller): “als ob die Gottheit nahe wär”. Genau so war es, zumindest in meiner poetischen Vorstellung. Ja, wir Dichter, die wir von jener sehnsuchtsvollen Ahnung der jenseitigen Harmonie als dem Komplementär des garstigen Diesseits erfüllt werden, sind doch diejenigen, die das göttliche Feuer in den irdischen Finsternissen weiterhin zu hüten haben und darauf achten müssen, dass es nie verlöscht. Würdest du diesem zustimmen?

 

Ja und nein. Dichter sind Diener höherer Ordnungen und haben zur Aufgabe, in den Menschen Bewusstseinsprozesse in Bewegung zu setzen. Die geschaffenen Figuren in den Dramen oder Romanen zum Beispiel sind doch eine Spieglung dessen, was mit den Kreatoren in ihren eigenen Vorstellungen selber geschieht. Dichtung ist kreatives Nachgespiegel mittels der alles vermögenden Vorstellung.

 

Das ist mir alles zu unverständlich. Besser, du plagst mich nicht mit solchen “deinen” Gedanken. Lass mich lieber Taten sehen.

 

Wer weiss, ob es meine Vorstellungen sind, leben wir doch alle als uns vorstellende Seelen im vorgespiegelten Nachgespiegel.


Unseren dichtenden und ehrenwerten Eulenspiegel erblicken wir bei seinen geldeinstreichenden Streichen im Restaurant erster Klasse des Münchner Hauptbahnhofes, welcher samt den aus- und einfahrenden Zügen zu seinem bevorzugten “Jagdrevier” geworden ist. Er nähert sich, seinen Hut lüpfend, einem Tisch mit drei Gästen: “Schönen guten Tag, die Herrschaften! Darf ich mich vorstellen? Ich bin der Dichter Dr. Bröckelberger-Molar! Darf ich Ihnen, verehrte Herren und hochverehrte Dame, je eine kleine “Festliche Gabe” überreichen? Ich hoffe, Sie haben Zeit, wenigstens das erste Gedicht “Zuspruch” zu lesen. Ich werde in einigen Minuten wiederkommen und Ihnen meine Dichterworte, so Sie diese behalten wollen, auch gerne signieren. Bis auf gleich denn!” Die Dame scheint doch sehr interessiert gewesen zu sein. Mal sehen, was dabei herausspringt. Jetzt arbeite ich schon fast vier Stunden in Vorortzügen und in Bahnhofsgaststätten. Ich werde gewiss schon hundert Mark verdient haben. (Es sind genau einhundertsechsundneunzig Mark und zwei Pfennige. Das Zweipfennigstück stammt von einem Mann, der sagte, das “Versgedrechsel” sei keine zwei Pfennig wert, jedoch das braunrote Papier schätze er auf jeden Fall auf zwei Pfennige ein, womit er die kupferne Münze dem unermüdlich sich Abrackernden überreichte.)

 

Und der Hutlüpfer verbeugt sich am nächsten Tisch: “Guten Tag, gnädiger Herr. Darf ein durch Notzeiten geprüfter Dichter und Vater von vier Flüchtlingskindern Ihnen einen Hoffnungsgruss in die Hand drücken?”

 

Herr: Betteln wollen Sie wohl, was? Bei mir nicht! Ich hab’ selbst drei Gören zu versorgen.

 

Molar: Ja, ich kann Ihnen dassnachfühlen. Wie alt sind denn Ihre verehrten Töchter?

 

Herr: Was will denn der von mir? Dreizehn, achtzehn und dreiundzwanzig.

 

Molar: Ich glaube, dass es Ihnen persönlich zur Freude gereichen wird, jeder Ihrer lieben Fräulein Töchter eine handsignierte “Festliche Gabe” vom Dichter Molar mitzubringen. Nehmen Sie sie an. Sie kosten nichts. Ich mache noch viele Verkäuferfehler. Aber ich lerne jeden Tag hinzu.

 

Der Kellner vom Dienst, Herr Wiechmann, kann gerade eine Verschnaufpause einlegen. Er betrachtet, durch uns hindurchschauend, den tätigen Dichter: Ja, ich gönne es ihm, dass er gross “abkassiert”. Mir gibt er jedesmal ein gutes Trinkgeld. Letzten Freitag hat er für meine kranke Frau ein mit “Gute-Besserung!-Ihr-Molar” signiertes Gedicht mitgegeben. Meine Emmi, die hat sich gefreut. Sie hat sich gewundert, mit was für berühmten Leuten ich zusammenkomme, und jetzt sogar noch mit einem lebenden Dichter, der zugleich auch noch ein “Herr Doktor” ist. Wer hat schon das Glück, einem solchen zu begegnen? Ich sagte ihr, dass ich öfter Persönlichkeiten von Rang und Namen bediene und von ihnen auch Trinkgelder erhalte. Viele sind zwar knauserig, aber es gibt auch andere. Ja, der Herr Doktor Molar ist ein richtiger Volksdichter. Er nimmt mit allen Leuten Kontakt auf. Nein, er ist sich nicht zu fein, auch mit unsereins zu sprechen. Mein Chef will zwar keine Hausierer in seinem Restaurant sehen, aber ich habe ihm zugeredet, beim Doktordichter eine Ausnahme zu machen, ist es doch noch nie vorgekommen, dass bei uns ein Dichter seine Gedichte den Gästen anbietet. Ja, sein erstes Gedicht der “Festlichen Gabe” heisst “Zuspruch”. Meine Frau ist ganz begeistert davon gewesen. Ich musste dem Herrn Doktor schöne Grüsse bestellen und ihren Dank und Gruss ausrichten. Ja, er hat sich gefreut. Das konnte ich sehen. Vielleicht sollte ich ihm jetzt unauffällig ein bisschen helfen, indem ich auch ein wenig “Zuspruch” leiste, denn Suggestionen, die aus einem ehrlichen Herzen stammen, verfehlen selten ihre Wirkung.

 

Somit nähert sich der oberhilfsbereite Kellner den die Gedichte lesenden oder gelesen habenden Gästen - er hat sie genau beäugt, denn wir beäugten ihn - und sagt so im nebenbei, indem er die Aschenbecher austauscht oder auch einen Teller oder ein Glas abräumt: “Hat Ihnen, gnädige Frau, das Gedicht des grossen deutschen Dichters gefallen, wenn ich mit Verlaub fragen darf?

 

Frau: Na ja, ich verstehe zuwenig davon, um beurteilen zu können, ob er wirklich ein grosser Dichter ist. Aber er ist ja auch, wie auf der Rückseite vermerkt ist, ein Doktor, also doch immerhin etwas.

 

Kellner: Er wird vielleicht nochmal ganz berühmt werden. Und dann werden Sie sich freuen, ihm auch einmal begegnet zu sein und ihm geholfen zu haben. Ja, es sind harte Zeiten für einen Dichter. Und wir Menschen müssen uns alle gegenseitig beistehen, besonders einem Dichter mit sieben Kindern.

 

Und Herr Wiechmann leistet unserem Dichter beste Vorarbeit, ohne dass dieser ihn dazu ermuntert hätte, denn Kuppeleien umd Komplotte schmieden, das liegt ihm nicht, ist er doch auch kein Romancier. Nachdem alle Gäste, von wenigen Widerspenstigen abgesehen - es muss auch solche geben -, mit einer “Festlichen Gabe” gleich einer zusätzlichen literarischen Speise versehen worden sind, schickt sich unser Verteiler zu seinem zweiten, dem “abkassierenden” Durchgang an: “Darf ich die gnädigen Herrschaften fragen, ob das kleine Angebinde Gefallen gefunden hat? Vielleicht darf ich es für jemanden signieren? ... Wollen Sie vielleicht auch für das verehrte Fräulein Schwester, die gnädige Mutter oder Tante eine ‘Festliche Gabe’ mitnehmen, denn es benötigen heutzutage so viele Menschen neben der materiellen Hilfe vor allem auch geistige Stärkung. Aber zugegebenermassen geht es ohne die materielle Hilfe nicht. Das weiss ich als ein von der Not mannigfach geprüfter Dichtervater von vier hungernden Barackenkindern, denen die Mutter im Kriege verstorben ist, am besten.”

 

Ja, unserem gross verdienenden Dichter wird so mancher Geldschein in die Hand oder in die Seitentasche gesteckt. Und selbst die Dame, die sich erst entrüstet zeigte und sagte: “Aber ich denke, Sie haben sieben Kinder, wie der Ober mir versicherte”, gibt ihm ein Fünfmarkstück mit den Worten: “Aber belügen dürfen Sie uns nicht!”

 

Und als der Erfolgreiche “abkassiert” hat und nun schwitzend erst einmal wieder eine Vorortbahn zu besteigen gedenkt, öffnet ihm der hilfsbereite Kellner die Türe und, den dargebotenen Zehnmarkschein (das Gehalt eines ganzen Arbeitstages!) einsteckend, sagt er zu seinem von ihm bewunderten akademischen Oberkassierer: “Ja, Herr Doktor, wir sind zwei Diener am Volk. Ich mache mich um das leibliche Wohl der Gäste verdient, und Sie stärken die Herzen.”

 

Molar: Ja, lieber Herr Wiechmann. So ist es. Bestellen Sie Ihrer Frau einen schönen Gruss und richten Sie ihr bitte meine Genesungswünsche aus. Sobald mein Gedichtband gedruckt ist, werde ich ihr ein handsigniertes Exemplar zukommen lassen.

 

Kellner: Darüber wird sie sich aber riesig freuen.


Und unser Schwerarbeiter besteigt den nächsten, den Bayrischen Alpen entgegeneilenden Zug. Er ist wieder einmal in Fahrt. Und wir machen Dampf.