Wo er nur bleibt

In der Bröckelberger Baracke sitzen die Frauen bei der Arbeit. Nur Heidrun fehlt. Seit der Todesnachricht ihrer Mutter hatte sie sich von Lilia beurlauben lassen. Sie sass tagelang, wenn die Kinder in der Schule waren, in ihrer kargen Behausung und weinte. Sie sah sich wohl hunderte Male die Bilder ihrer Mutter und ihres Mannes an, und sie dachte an die blühenden Zeiten ihrer so hoffnungsfrohen Jugend zurück, die eigentlich bis zu dem Tode ihres im Krieg gefallenen Gatten angedauert hatten, dass erst die Todesnachricht von der Front die grosse Zäsur in ihrem Leben bildete, die Scheidewand also, die das Frohe vom Schrecklichen trennte. Und einmal erst auf jener Schattenseite des Lebens befindlich, war sie sofort eine alte Frau geworden, gebrochen an der Seele, vergrämt, enttäuscht, ernüchtert und doch fassungslos. Die wundergefügte Zeit einer in voller Blüte stehenden Frau hatte es für sie nie gegeben, denn nach dieser sich nimmer zu ermüden scheinenden Jugend wurde sie sogleich in das Alter einer geprüften Frau gestürzt, die nur noch erdulden muss und von den Erinnerungen ihrer Jugend zehrt, dass die Gegenwart, ihr wie ein feindlicher Widersacher trotzend, nur Demütigungen und Leid beschert.

 

Rosa sitzt neben dem leer gebliebenen Stuhl ihrer neuen Freundin über ihre Arbeit gebeugt: Die arme Heidrun. Sie tut mir so leid. Ich bin froh, dass ich jetzt bei ihr wohne und sie in ihrem Leid ein wenig trösten darf. Ja, ich kann mir denken, dass der Tod einer solch innig geliebten und verehrten Mutter sehr schmerzlich für sie sein muss, denn diese war eine zu bewundernde Frau. Sie kannte den „Führer“ selbst, und sie lebte seit ihrer ersten Begegnung mit ihm nur noch für ihn und seine Ideen. Auf jedem Reichsparteitag war sie zugegen, und Heidrun durfte zumeist ebenfalls dabei sein. Wie beneide ich die beiden. Ich wollte immer einmal selbst dem „Führer“ die Hand schütteln. Ich liebte ihn. Ich küsste sogar seine Bilder. Ich hätte alles für ihn gemacht. So musste ich mich mit dem begnügen, was mir zugewiesen wurde. Ich höre Heidrun so gerne zu, wenn sie von der „grossen“ Zeit ihrer Mutter erzählt, an deren Seite sie, beide auf dem Flügel eines Höheren sitzend, mit in die Wolken gehoben wurde, um von dort nach den noch in der Ferne glitzernden Paradiesen Ausschau zu halten, welche die Phantasie wie durch ein Vergrösserungsglas näherrückte und ausstaffierte mit den Utopien einer grossdeutschen Seele. Ja, es ist gut, wenn ich ihr dieses Vergrösserungsglas noch ab und zu reiche, auch wenn ihre Verzückungen bald wieder versiegen, eingedenk des Flügels, der sie ja nicht mehr in die Lüfte hebt, ja, eingedenk der Schlucht, in deren Finsternis sie jetzt zu darben hat. Arme Heidrun! Gestern hatte sie keinen Pfennig mehr, um irgend etwas Essbares einzukaufen. Sie wollte den Ehering, ihr letztes Angebinde von ihrem Mann, verkaufen. Wie froh bin ich, dass sie, wenn auch nach langem Zögern, es akzeptierte, meinen Ring, ein Erbstück meiner Mutter, anstelle des ihren zu veräussern. Ich schulde ihr ja sowieso meinen Mietbeitrag, auch wenn sie mit mir darüber nie gesprochen hat. Ja, wann kommt endlich Hans Winfried? Wir alle warten auf Bezahlung.

 

„Ich wünschte, dass Herr Doktor heute noch käme, wie Sie, Frau Katzenbach, vorhin behauptet haben“, so bricht jetzt Erika Loderer das Schweigen. „Ich bin davon überzeugt, dass er heute noch kommt, denn meine Karten trügen nie“, so entgegnet die sich angesprochen fühlende Bucklig-warzig-Hinkende. Und während der allgemeinen Stille, die wieder eintritt, belauschen wir zwei ein wenig die Gedanken der Anwesenden. Wenden wir uns zuerst der Katzen-Kartenfrau zu: Ja, das stimmt. Meine Karten haben immer recht, auch wenn es manchmal erst anders erscheinen will. Aber im Grunde sind es ja nicht sie, die Auskunft geben, sondern es ist mir, während ich sie auf dem Tisch ausbreite, als ob jemand Unsichtbares, mir zuflüsternd, meine Fragen beantworten würde. Darüber hinaus kommt es auch vor, dass die Karten oft genau mit dem Zugeflüsterten übereinstimmen. Als ich sie heute morgen befragte, wann der liebe Herr Doktor zurückkäme, dasszog ich das Karo As und hörte: „Er kommt heute.“ Und als ich fragte, ob er erfolgreich zurückkehre, zog ich die Pik Sieben und hörte: „Er ist nicht glücklich.“ Wer sind diese unbekannten Zuflüsterer? Denn dass die Karten nicht sprechen können, dessen bin ich ganz sicher.

 

Erika: Wenn ich heute noch vor vier Uhr ausbezahlt werde, dann laufe ich noch schnell in die Stadt und besorge mir den Stoff für das Faschingskleid, bevor er verkauft ist. Heutzutage muss man gleich zupacken, wenn es etwas Gutes zu erstehen gibt, sonst ist es sofort vergriffen. Ja, ich werde mir ein blaues Brautkleid schneidern. Der Jean wird Augen machen. Gestern hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten wolle. So ein lieber Kerl. Dabei kennen wir uns doch erst seit ein paar Wochen. Wenn ich doch nur schon französisch sprechen könnte. Ich freue mich schon auf die Fastnacht.

 

Frau Loderer fragt wieder nach der Uhrzeit, denn sie hat Irmgard zu holen, damit diese ihrer täglichen Guten-Morgen-liebe-Mami-Zeremonie nachkommen kann: Ich muss dringend meinen Januarlohn erhalten, denn schliesslich habe ich ja Irmgard auch noch zu versorgen. Frau Bröckelberger hat mir zwar versprochen, bei der Rückkehr ihres Mannes auch die Unterhaltskosten für ihre jüngste „Tochter“ bezahlen zu wollen, aber diese stehen ja schon seit drei Monaten aus. Mir ist es auch einerlei. Die Hauptsache ist, dass ich meinen Monatslohn bekomme. Ja, hoffentlich kommt Herr Doktor heute noch zurück. Ob der Herr Doktor wohl schon alle Schuhe verkauft hat?

 

Lilia: Er ist ein Verkaufsgenie. Ich kenne keinen, der als Verkäufer so viel Talent hat wie er. Als wir mit den Kindern auf unserer Hochzeitsreise in Garmisch waren und über kein Geld verfügten, um mit dem „gläsernen Zug“ auf die Zugspitze zu fahren, hat er dem Zugführer seine alte krokodilslederne Reisetasche verkauft, und jener hat uns umsonst mit rauf- und wieder mit runtergenommen.

 

Frau Katzenbach: Ja, der Herr Doktor ist ein Genie in mancherlei Beziehung. Der wird noch einmal ein berühmter Mann werden. Ich wünsche nur, dass ihm nichts Unheilvolles zugestossen ist.

 

Rosa: Ich habe ihn letzten Sommer in Konstanz kennengelernt, als er, mich auf dem Markt ansprechend, mir ein Paar Bastschuhe verkaufte. Doch dass ich nicht über genügend Geld verfügte, überliess er sie mir zum halben Preis.

 

Frau Loderer: Ja, Herr Doktor ist ein guter Mensch. Er denkt nie schlecht über andere. Ich werde jetzt nach Irmgard sehen.

 

Lilia: Hans Winfried ist ein viel zu guter Mensch. Er müsste härter sein und sich nicht alles gefallen lassen. Wenn ich nicht in seinen Armen seine Männlichkeit zu fühlen bekäme, würde ich ihn wegen seines Betragens oft als ein Kind bezeichnen wollen. Er ist so naiv, so kindlich gutgläubig. Er ist ganz anders als seine Schwester, die mich, wie ich wohl bemerke, nicht als Schwägerin akzeptieren mag, besonders seitdem ich ihr einmal anvertraute, dass ich in den zwanziger Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen bin. Es war auch zu dumm von mir, so etwas zu sagen. Na, jetzt ist es nicht mehr zu ändern. Man lernt aus Fehlern. Als sie das Telegramm aus Thüringen erreichte, kam sie mit verweinten Augen zu mir, gab es mir zu lesen und fragte mich, ob ich ihr wenigstens das Geld für ein Kondolenztelegramm an ihren Vater auslegen könnte, dass sie ja ihren Lohn nicht pünktlich erhalten habe. Nun ja, ich habe das ihre zu dem unsrigen gemacht und sofort Hans Winfried telegraphisch verständigt. Wo er nur bleibt? Er müsste schon längst wieder zurück sein. Ich ahne Unheilvolles. Treibt er sich wieder bei jungen Frauenzimmern herum? Ja, Männer sind jetzt Mangelware, dassso viele von ihnen im Kriege gefallen sind, und jeder alleinstehende und gutaussehende Mann wird sich bald umgarnt finden. Ich wünschte, wir hätten noch mehr Besatzungssoldaten in Deutschland, damit sich das Heer der Witwen und Unverheirateten nicht auf die wenigen überlebenden deutschen Ehemänner stürzen müsste. Es ist immer ein Risiko, Hans Winfried auf Verkaufsreise zu schicken. Wo er nur bleibt? Ich mache mir Sorgen, denn meine Frauen murren schon. Ich schulde ihnen für Januar noch rund achthundert Mark Löhnung.