Wiedergetroffen

Die Strassenbahn der Linie 8 fährt, auf ihrem Schienenstrang schlenkernd, durch die noch teilweise in Trümmern liegende Ludwigstrasse hinaus nach Schwabing, dem Münchner Künstlerviertel. Molar befindet sich unter den Stehenden, dass er seinen Platz einem älteren, gleich wieder in seinem Buch lesenden Mann überliess. Sind wir denn immer noch nicht in der Lindwurmstrasse angekommen? Ach Gott, das ist ja das Siegestor in Schwabing. Ich fahre ja in die falsche Richtung. Nun, ich muss bei der nächsten Haltestelle sofort aussteigen. „Maria!“, so hört er auf einmal die Stimme einer Mittfünfzigerin rufen, „du hast deinen Handschuh fallen lassen.“ Sofort dreht sich unser eilfertiger Kavalier um, erblickt auf dem Boden einen schwarzen feinen Lederhandschuh und bückt sich sogleich nach diesem. Ein anderer, schnurrbärtiger Herr bückt sich ebenfalls, und, o weh! - wenigstens für die Be- oder Getroffenen -,  jetzt stossen beider Stirnen mit Macht aneinander. Die Hüte der Anstosser oder vielmehr der Angestossenen sind verrutscht. Mit ihrer rechten Hand befühlen sie sofort die schmerzende Stelle. Sie richten sich langsam auf und hören - wie von Ferne - eine Stimme an ihr Ohr dringen, ohne dabei das schöne, nun errötete Gesicht der schwarzhaarigen Dreiundzwanzigjährigen sehen zu dürfen: „Entschuldigen Sie vielmals. Das ist aber peinlich. Wie konnte so etwas nur passieren?“ Sie muss sich nun selbst nach ihrem Handschuh bücken, und dass die Strassenbahn sich soeben anschickt anzuhalten, begeben sich Mutter und Tochter vorbei an dem schmunzelnden Gesicht des anlässlich dieses Vorfalles wie zufällig vom Buche aufschauenden Lesers in den vorderen Teil des Wagens, um alsgleich auszusteigen. Unserem wackeren Recken ist sein Vorhaben, sofort den Wagen zu verlassen, noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Aber jetzt nimmt er seine Hand von der glühenden Dichterstirn und schaut den schnurrbärtigen Widersacher, der ihm die Stirn bot, an, der ebenfalls just in diesem Moment sich seinen aus der Ordnung geratenen Hut wieder in die gewohnte Position zu setzen anschickt und dabei sein blauäugiges, markantgesichtiges Gegenüber anstarrt: Das ist doch, ja träum’ ich noch, „Mensch, das ist doch Hans Winfried! Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Und als er auch seinen Namen vom Angeredeten und ebenfalls Stirnbeuligen ausgesprochen hört, dassist aller Schmerz sofort vergessen. Die beiden Schulfreunde umarmen sich, so dass jetzt einer der vorher in so wackeliger Stellung verharrenden Hüte zu Boden fällt, während die wieder anfahrende Strassenbahn ihnen noch bei der freudigen Umarmung einen Schubs verpasst, der sie beinahe völlig aus der Balance geworfen hätte. „Mensch, Torsten“, so entfährt es dem Wiederaufgerichteten, „wo kommst du denn auf einmal her? Welch ein Zufall (als ob der Zufall so zufällig gewitzt sein könnte)! Welch ein Zusammentreffen!“ Torsten von Luckwald, um eine viertel Kopflänge kleiner als unser halbglatziger Vor-Dichter, entgegnet nun mit einem Lächeln, in welchem trotz des erfreuten Erstaunens ein leiser Vorwurf für einen Mienen-Leser nicht zu übersehen ist: „Das war ein originelles Zusammentreffen, ganz typisch für Hans Winfried, dem schon immer die eigenartigsten Einfälle aus der Stirn hervorsprossen.“ So wechselt ein Wort das andere, und unser Schnellentschlossener vergisst seine Bestimmungsstrasse und folgt dem ihn zu sich einladenden Adligen in dessen Wohnung, die aus nichts anderem als einem engen Zimmer in einem fünfstöckigen Mietshaus, in der Herzogstrasse gelegen, besteht.

 

Aber bei ihm, dem Adelssohn, sieht es gar nicht hochherrschaftlich aus, im Gegenteil, man könnte meinen, in das Gemach eines hungernden und noch nicht wieder auf einen grünen Zweig gekommenen Poeten gelangt zu sein. Unter dem überall herumliegenden Durcheinander holt Torsten einen Stuhl hervor und bietet seinem früheren Klassenkameraden an, darauf Platz zu nehmen. Ja, einen neuen Mantel hat er. Ich wünschte, ich hätte einen solchen. Woher hat er nur das Geld? Er sagte, er sei reisender Schuhverkäufer und verdiene recht gut. Um einen guten Schuhverkäufer abzugeben, muss man ehrgeizig-gerissen und vor allem „money-minded“ sein. Beides ist er doch damals nie gewesen. Hat er sich etwa geändert? Wieviel verdienst du so am Tag?

 

Molar: An meinem letzten Arbeitstag vor drei Tagen habe ich über eintausendfünfhundert Mark verdient.

 

Luckwald: Was? Das ist doch nicht möglich! Das gibt es nicht! Jetzt in dieser Zeit, wo noch nicht einmal ein Fabrikdirektor soviel in einem Monat verdient, willst du über eintausendfünfhundert Mark an einem Tag verdienen? Er will mir bestimmt einen Bären aufbinden. Für Höhenflüge war er ja schon früher zu haben. Bist du ganz klar bei Sinnen?

„Vollkommen“, erwidert unser rüstiger Held. Und er erzählt ihm im einzelnen von seinen Erfolgen und über die Art, wie er zu solchen kam, und vergisst dabei nicht, darauf hinzuweisen, dass das Glück ihm hold sei und er sich somit an jeden Drachen heranzuwagen traue.

 

Molar: Hast du von Siegfried gehört?

 

Luckwald: Ja, er soll jetzt in Amerika Raketen bauen. Er gehörte ja zum engeren Kreis der V1- und V2-Konstrukteure. Der hat jetzt bestimmt ein grosses Haus und fährt einen Chevrolet. Der hat das Richtige studiert, während ich Rindvieh mich an die Literaturwissenschaften klammerte und schliesslich in der englischen Gefangenschaft die Aborte leeren musste, während so einer wie er gleich nach dem Krieg bestimmt mit Glacéhandschuhen angefasst und mit Kaviar gefüttert wurde.

 

Molar: Ach, das ist ja interessant. Er hatte uns damals in der Prima schon versichert, dass sich die Landung des Menschen auf dem Mond noch zu unseren Lebzeiten ereignen würde. Nun, so weit sind wir noch nicht. Aber die Mondlandung werden du und ich bestimmt noch erleben.

 

Luckwald: Hans Winfried war schon immer ein Phantast. Er befindet sich ja mit seinen Gedanken sowieso in den Sternen. Nein, das glaube ich nicht. Bevor wir unseren Weltraum verlassen werden können, wird die Menschheit sich längst gegenseitig vernichtet haben. Die Grossmächte bedrohen sich doch schon jetzt mit Atomwaffen. Irgendwann geht es wieder los, und dann können wir alle hochfliegenden Gedanken vergessen, weil wir selbst hochfliegen werden.

 

So diskutieren beide über das ihnen sich im Kleid der Zukunft versteckende Schicksal und ahnen nicht, dass das Zukünftige schon Gegenwart und die Gegenwart das Vergangene und das Vergangene das Zukünftige ist, denn alle Zeiten sind nur verändert scheinende Zustände des Ewig-in-sich-Einen.

 

Als Torsten seinem wiedergewonnenen Schulfreund die Hand zum Abschied drückt, bringt er einen Wunsch hervor, der seine Gedanken während ihres Gespräches belagerte: „Ach, was mir noch gerade einfällt, lieber Hans Winfried. Kannst du mir nicht etwas Geld leihen? Ich bekomme wahrscheinlich morgen schon eine Nachzahlung und kann es dir dann wiedergeben.“

 

Molar: Ja, selbstverständlich. Wieviel Geld benötigst du?

 

Luckwald: Ja, wenn du mir, sagen wir, fünfzig bis achtzig Mark pumpen könntest, wäre ich dir sehr dankbar.

 

Molar: Nun, sagen wir hundert.

 

Nachdem der Gebefreudige in die kalte Nacht hinausgegangen ist, sitzt der seit seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft arbeitslose Torsten sichtlich erfreut über seinem geliehenen oder gar geschenkten Hundertmarkschein, den er vor sich auf den Tisch gelegt hat: Ja, der Hans Winfried, der ist immer noch der gleiche geblieben. Dichter und Schuhverkäufer ist er geworden. Na ja, in der Schule hat er zu ersterem schon viel Talent gezeigt. Und dann sein Abituraufsatz über Rilke! Das war eine grosse Sache. Ein Aufsatz in lyrischen Versen. Der deutschlehrer war ja ganz ausser sich vor Freude und prophezeite, dass sein Dichterschüler einmal zu den ganz Grossen der deutschen Sprache gezählt werden würde. Und dann ist jener doch gleich zum Rundfunk gegangen, und dieser hat doch tatsächlich das „Zusammengerilkte“ im Radio gesendet. Aber ein Grosser ist er dennoch nicht geworden, das konnte ich den schwülstigen Gedichten, die er mir heute vorlas, entnehmen. Er sagte, er werde demnächst Gedichte in den Zügen verkaufen und habe vorgestern mit einem Drucker verhandelt. Nun, sein Stern der Dichtung scheint ja noch zu leuchten, doch was ist mit dem meinigen geschehen? Dabei dachte ich doch in der Schule, dass meine Gedichte viel besser als die seinigen seien. Sie übertrieben doch wenigstens nicht so, waren nicht so aufdringlich und so pompös. Ja, wir haben oft zusammengesessen und unsere neuen Produkte vorgelesen. Doch irgendwie blieb er mir als Mensch fremd. Er war eigentlich immer weit weg, als ob er auf einem anderen Stern zu Hause wäre und hier auf Erden nur einen flüchtigen, aber intensiven Besuch abzustatten hätte. Aber neidisch war ich doch, als sein Abituraufsatz im Radio gesendet wurde. Wie begann er noch: „Du, der du die Sterne in ihrer Weisheit behorchtest, verkündetest uns, mit gemahnender Stimme, den Atem des unendlichen Gottes in uns zu vernehmen... „ Ja, welch Pathos! Mich widerte damals seine Gegenwart an. Ich konnte auch nicht mehr wie die anderen über seine improvisierten Einfälle lachen. Mir kam er vor wie ein grobschlächtiger Scharlatan, dessen Sinne sich ständig für etwas Ideelles begeisterten, der aber für logische Argumente und sachliche Zuwendung nicht zu gebrauchen war. Ja, er ist so richtig wie ein Maikäfer, der dauernd von seinem nächsten Mondscheinflug träumt. Aber versucht er denn nicht, diese Höhenflüge auch wahr zu machen? Was sagte er noch? Er will einen Verleger für seine Gedichte finden? Na, er wird sich wundern. Einen Verleger für meine Gedichte suche ich schon seit zwanzig Jahren.