Wie ein Kindergartenjunge

Unser Ringbewahrer wacht am folgenden Dienstag frühmorgens aus einem Traum auf. Er schaut auf die Uhr: Neun nach drei. Das ist ja etwa genau die Zeit, wo ich meine blumengeschmückte Japanerin küsste (seine Uhr ging damals sieben Minuten vor). Eigenartig. Ich habe auch gerade von ihr geträumt. Sie sass am Klavier und spielte mir etwas vor. Vielleicht kann sie gar nicht Klavier spielen. Träume sind doch nur Lügenmärchen. Ja, sie sass am Klavier und trug ein hellblaues Kleid. Und dann wollte ich sie küssen, aber sie bot mir nur die Wange dar. Und ich befand mich mit ihr auf einmal wieder im Haus der Kunst bei jenem Faschingsball und durfte dort die Zauberin nochmals zum “ersten” Mal küssen. Schade. Jetzt musste ich aufwachen, wo es gerade so schön war. Wie kann ich meine Geliebte nur wiederfinden. Ach, wenn wir uns doch nur im griechischen Altertum befänden, wo man die Götter um Hilfe und Schutz anflehen konnte. Wir in unserer technischen Welt haben jeglichen Kontakt zu den überirdischen Mächten verloren (aber sie nicht zu euch!). Mit der schrittweisen Entmythologisierung haben wir als gesamte Menschheit das Zauberland der frühen Kindheit verlassen, jene Zeit des Glücks und des Geborgenseins, wo wir noch, mit der Natur und dem Göttlichen uns duzend, Vertrauen zur Schöpfung hatten und deren Zornesausbrüche als gerechte Heimsuchungen verstanden. Ja, in unserer Menschheit Kinderland waren wir glücklich. Aber wie alt sind wir jetzt? Vielleicht vierzehn, fünfzehn, sechzehn. Wir, die entwurzelte Menschheit, die nicht mehr auf die schönen Märchen hört, sondern allem mit den messen wollenden Sinnen begegnet. Der Glaube an Gott ist verlorengegangen. Wie gut, dass meine Kinder ihn noch hegen. Ob sie wohl glücklicher sind als wir Erwachsenen? Was wird Maria sagen, wenn ich ihr offenbare, dass ich ein verheirateter Ex-Witwer mit vier Kindern bin? Vielleicht sehe ich sie auch nie wieder, dann brauche ich ihr auch nie einen Offenbarungseid zu leisten, der ihr wahrscheinlich doch nur einen Schreck versetzen dürfte. Ach, könntest du jetzt hier sein und mich aus aller Not befreien. Ich liebe dich. Ich, der schon alle Hoffnungen aufgegeben hatte, je wieder lieben zu dürfen, habe mich in dich verliebt, du, die du meine Tochter sein könntest. Ist es meine Schuld, dass wir uns begegnen mussten? Aber wie finde ich dich bloss wieder? Jetzt habe ich mir schon zwei Tage lang den Kopf zerbrochen, wie ich es wohl anstellen sollte, sie wiederzutreffen. Aber mir fiel nichts Vernünftiges ein, und Verzagtheit umklammerte mein Herz. Ich versuchte gestern meine Not damit zu überdecken, dass ich wieder Gedichte verkaufte. Aber das Glück wollte sich mir nicht so richtig zugesellen. Mir fehlte der Schwung. In jedem Zugabteil hoffte ich, dich, meine Maria, unter den Fahrgästen zu finden. Aber mich blickten nur mich enttäuschende Masken an. Was soll ich jetzt nur unternehmen, um dich wiederzusehen? Möge der Himmel mir helfen! Vielleicht sollte ich einfach alle Kindergärten Münchens aufsuchen oder anschreiben oder einfach anrufen und fragen, ob dort ein Fräulein Maria angestellt sei. Schreiben? Dauert viel zu lang. Ich bin zu ungeduldig. Aufsuchen? Das könnte Tage dauern! Anrufen? Ja, natürlich! Warum bin ich nicht früher auf diese Idee gekommen? Das ist doch das Selbstverständlichste von der Welt. Ich rufe heute morgen alle im Telephonbuch verzeichneten Kindergärten Münchens an. Irgendwo wird sie ja wohl zu finden sein.

 

Und Hoffnung keimt wieder in unseres Einfallsreichen Herzen. Er nimmt das Kopfkissen in seine Arme, küsst es vielmals und flüstert, noch uns vernehmlich: “Maria, ich liebe dich. Heute werden wir uns wieder umarmen können.”


Und unser Aphrodite mit dem Kabel suchender Träumer steht schon geraume Zeit mit dem Hörer in der Hand in einer Telephonzelle des Münchner Hauptbahnhofes. Zwei Bürgerinnen deutscher Provenienz warten ungeduldig darauf, dass der Dauerwähler endlich ihnen jene beengende Enge überlässt.

 

Molar: So, jetzt habe ich noch gerade die beiden Münzen, um mein siebtes Gespräch zu führen. Dann muss ich erst einmal wieder Geld wechseln gehen. Die lieben Leute vor der Tür werden ungeduldig. Die Dame mit dem Jägerhut hat schon mit einer Münze gegen das Glasfenster getrommelt. Vielleicht gebe ich ihr nochmals zu verstehen, dass dieses nun mein vorläufig letztes Gespräch sei.

 

Er wählt die aus dem geöffnet vor ihm liegenden Telephonbuch entnommene Nummer.

 

Stimme: Hirschfelder!

 

Molar: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie zufällig belästigen sollte. Aber vielleicht können Sie mir eine Auskunft geben. Ich bin nämlich im Besitz eines Goldringes und möchte ihn einer schwarzhaarigen Kindergärtnerin, namens...

Stimme: Maria...

 

Molar: Ja, genau! Ach bist du es endlich, die ich schon seit Tagen suche?

 

Maria: Ja, lieber Baron. Ich bin erfreut, dass wir uns endlich sprechen können.

 

Molar: Wie unsagbar froh bin ich, meine Japanerin wiedergefunden zu haben.

 

Maria: Warum bist du denn nicht zum Monopterus gekommen? Ich habe dort eine Stunde lang gewartet.

 

Molar: Und ich wartete nur einige hundert Schritte davon entfernt vor dem Café Monopterus. Aber nach vier Uhr klärte mich ein Herr über meinen Irrtum auf, und ich eilte zum richtigen Treffpunkt, wo mir eine Dame berichtete, dass du schon vor einer Viertelstunde weggegangen seist. Ich konnte dich auch danach nirgendwo mehr finden.

 

Maria: So etwas Dummes.

 

Dame, die Tür öffnend: Sie Unverschämter! Glauben Sie, dass Sie allein auf der Welt sind? Es gibt noch andere, die auch dringend telephonieren wollen. Nehmen Sie gefälligst auch auf andere Rücksicht, Sie Egoist!

 

Molar: Verehrte Dame! Ich bin ja sofort fertig!

 

Maria: Was war das?

 

Molar: Leute beschweren sich über mein langes Telephonieren.

 

Maria: Aber wir unterhalten uns doch noch keine drei Minuten lang.

 

Molar: Du bist ja nicht die Erste, die ich anrufe.

 

Maria: Was? Hat er noch mehrere Verehrerinnen? Und ich komme auch noch nach den anderen? Wen rufst du denn noch alles an?

 

Molar: Ja, du musst wissen, dass ich alle Telephonnummern der Münchner Kindergarten anzurufen unternahm, bis ich dich gefunden hatte.

 

Maria: Ach so, jetzt verstehe ich.

 

Molar: Maria, wo und wann können wir unser verpatztes Rendezvous nachholen?

 

Maria: Vielleicht morgen nachmittag.

 

Molar: Nein! So lange kann ich nicht warten. Wir müssen uns heute noch treffen.

 

Maria: Nun gut. Sagen wir um zwei Uhr im Kindergarten. Hast du meine Adresse?

 

Molar: Ja, sie steht im Telephonbuch. Bis später!

 

Dame: Sie rücksichtsloser Flegel! Eine Gemeinheit ist es, so lange eine Telephonzelle für sich zu beanspruchen!

 

Molar: Verzeihen Sie, liebe gnädige Dame! Aber dieses kurze Telephongespräch war das glücklichste in meinem ganzen Leben. Bitte, verzeihen Sie mir!

Und er drückt den beiden sich verdutzt ansehenden Wartenden je einen Zehnmarkschein in die Hand und ist alsbald im Massengemenge des Hauptbahnhofes untergetaucht. Und die Ameisen auf seinem Bauch rumoren wieder.


Maria sitzt seit zehn Minuten an dem Kindergartenklavier. Vor einer Stunde ist das letzte ihrer etwa zwanzig zu betreuenden Vorschulkinder abgeholt worden. Danach räumte sie auf, ass ein mitgebrachtes Butterbrot und hat sich dann, ein paar Melodien spielend, ans Klavier gesetzt, wo sie auch heute wieder die Buben und Mädchen beim Liedersingen begleitet hat.

 

Maria: Ja, meine Kleinen lieben das Lied von der Schneekönigin am meisten. Wir müssen es jeden Tag singen. Jeden Augenblick muss es schellen. Ich bin ja so aufgeregt. Wir haben uns schneller wiedergefunden, als ich es gedacht habe. Er war doch kein Dieb. Habe ich doch recht behalten. Gestern habe ich einen Brief von Manfred erhalten. Er liebt mich, wie er mir wiederholt versichert. Er sieht gut aus. Er ist zweisprachig aufgewachsen. Er kommt aus einer reichen jüdischen Familie. Er will im April sein juristisches Examen in Rom ablegen und mich dann hier besuchen kommen. Wird er mein zukünftiger Mann sein? Ich liebe ihn zwar noch nicht, aber ich mag ihn doch sehr gerne. Eigentlich könnte ich mir vorstellen, als seine Ehehälfte gut zu ihm zu passen. Aber das Schicksal wird mich führen. Ihm vertraue ich mich an. Es klingelt an der Tür. Das wird er sein. Ich weiss noch nicht einmal, wie er wirklich heisst. Er nannte sich beim Abschied mit seinem Künstlernamen. Molar? Was für ein eigenartiges Pseudonym.


Und als unser fündiger Dichter seine Geliebte im Türrahmen vor sich stehen sieht, vergisst er seine auf dem Wege zu ihr ausgemalten ersten Handlungen, die darauf abgesehen waren, sie sofort zu umarmen und, wenn möglich, mit einem Kuss an ihr Faschingsgeschnäbel anzuknüpfen, um eventuelle Gefühlsschluchten, die sich durch die zeitliche Distanz aufgetan haben könnten, nonchalant zu überbrücken. Aber jetzt steht er pochenden Herzens vor ihr und bringt nur ein, nennen wir es nur “verlegenes”, “Guten-Tag-Maria!” hervor, worauf die Angeredete ihm die Hand reicht und ihn durch den Flur der zweistöckigen Villa hinein in das Zimmer des von ihr auf Dauer gepachteten Privatkindergartens führt. Die der Eingangstür gegenüberliegende Tür weist auf eine geräumige Terrasse hinaus, hinter der sich das Gelände eines Gartens mit Sandkasten, Schaukel, Wippe und Kletterbaum abzeichnet.

 

Maria: Er sieht so ganz anders aus. Ich fühle mich fast fremd in seiner Gegenwart.

 

Molar: Was soll ich ihr jetzt sagen? Mir will aber gar nichts einfallen. Ach ja, die Blumen.

 

Und unser Blumensträussiger nimmt die hinten versteckte Hand hervor, in der er bisher das noch eingewickeIte Gedüft mit schweissbedeckter Handfläche hielt, und überreicht seine Willkommensgabe der sich freudig überrascht zeigenden Angebeteten, die ihm in ihrem blauen Kleid mit dem violetten Gürtel ebenso schön erscheint wie auf jenem Faschingsfest, auch wenn sich nun Aphrodite in eine germanische, schwarzhaarige Freya verwandelt hat.

 

Molar: Wie schön sie ist. Ihr feines Gesicht. Die vollen und doch so zarten Lippen. Und dann... Nein, jetzt nicht weitergaffen, sonst fängst du wieder an zu zittern.

 

Und die schwarze Germanin (Gibt es denn so etwas überhaupt? Du siehst es ja. Ausserdem befinden wir uns in einem Buch, wo alles möglich ist, was du dir vorstellen kannst.) riecht an dem ausgewickelten Gewächshausvorfrühlingsstrauss (im deutschen vermag man noch längere Wörter zu längen), der aus Narzissen, Tulpen und Osterglocken zusammengestellt ist.

 

Maria: Das ist aber eine wunderbare Überraschung! Und sie nähert sich dem nun glücklich Lächelnden und gibt ihm fussspitzenstehenderweise einen Kuss auf seine schweissklebrige Stirn.

Aber auch der Blumenstrauss vermag nicht die beiderseitige Entfremdung einzudämmen, worauf der Ringbringer, nachdem er, der höflichen Aufforderung nachkommend, auf einem Stuhl Platz genommen hat, sich ihres Treuepfandes erinnert und, es hervorkramend, nun seiner Besitzerin zurückerstattet.

 

Maria: Ja, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen konnte. Aber Führungen des Himmels können wir ja leider nie voraussehen (Gott sei Dank!), so dass wir dessen Launen unterworfen sind. So tun wir am besten daran, das Schicksal willfahren zu lassen, ohne uns dagegen zu sträuben.

 

Molar: Wie klug sie spricht! Jetzt muss ich auch etwas Gescheites sagen. Ja, ganz meiner Meinung. Trotzdem dürfen wir uns nie von ihm unterkriegen lassen. Hätte ich mich nach unserem verpatzten Rendezvous verzagt gezeigt und das Missverständnis als Fingerzeig Gottes genommen, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen (0, Göttliche Einfalt!). Dort steht ein aufgeklapptes Klavier. Kannst du etwa auch auf den Tasten zaubern?

 

Maria: Leider nur allzuwenig. Als junges Mädchen habe ich jeden Tag mehrere Stunden geübt. Aber jetzt begleite ich meistens nur noch meine Kinderschar oder spiele für mich. Und der zwischen Bewunderung und Verlegenheit Schwankende bittet Maria, ihm doch etwas vorzuspielen.

 

Molar: Meine Mutter hat Geige gespielt, und ihre Freundin hat sie oft am Klavier begleitet. Die Musikabende in meinem Elternhaus sind mir unvergesslich geblieben.

 

Maria: Aber ich habe viel verlernt. Du musst also verzeihen, wenn ich falsch spiele. Als ich mein Staatsexamen als Kindergärtnerin ablegte, unterzog ich mich auch einer Klavierprüfung. Damals trug ich Beethovens Pathétique vor. Vielleicht habe ich sie noch im Kopf.

 

Und die Schwarzhaarige dreht sich auf dem Klavierschemel dem Tastinstrument entgegen, und die ersten Töne dieses Tonwunders erklingen.

 

Molar: Das ist doch nicht zu glauben! Das schönste und geistreichste Mädchen, dem ich je begegnen durfte, ist zugleich eine perfekte Pianistin. Ich bin erschüttert. Sie ist viel zu edel für mich. Aber hat meine Dichtkunst nicht ebenfalls vom Hehrsten? Ist sie ihr nicht ebenbürtig? Aber ich, der Molar aus Haut, Knochen, Haaren, bin ein Nichts gegen sie. Sie kann man wenigstens ansehen, berühren, während meine Gedichte noch der Augen harren, die sich ihnen öffnen. Alle Männeraugen aber werden sich, wohin sie auch geht, ihr zuwenden. Mir als Person wirft doch kaum eine Frau einen Blick von ungefähr zu. (dassscheint er sich aber doch gewaltig zu täuschen. Meinst du nicht? Ja, das stimmt schon. Aber vor der überwältigenden Schönheit verzagt auch ein kühner Dichter und fühlt sich klein und nichtig.)

 

Doch auch während des Klavierspiels weilen Marias Gedanken nicht so ganz bei dem ewig mürrisch dreinschauenden Komponisten. Ihr ist es recht, dass sie dieses unangenehme Gefühl der Befremdung mit Musik überbrücken kann. Und als sie sich vom Schemel wieder erhebt, macht der von der Schönheit und Erhabenheit Verzauberte eine beglückwünschende, sie umarmende Geste, wagt aber dabei nicht, ihr Gesicht oder gar ihre Lippen zu berühren. Sie, die schwarze Aphrodite, ist ihm jetzt ein Himmelswesen geworden, dem gegenüber er sich geradezu wie ein Kindergartenjunge vorkommt. Und auch als sie sich wenig später voneinander an der Strassenbahnhaltestelle verabschieden, nachdem ein Wiedersehen am kommenden Freitag vor dem Pasinger Bahnhof verabredet worden war, machen sich bei dieser wiederholten kurzen Umarmung in ihm ebenfalls die Scheu und das Würdegefühl bemerkbar, die man vielleicht vor einem Goethe oder Thomas Mann oder gar vor der Heiligen Jungfrau selbst hegen würde.