Sie hat Klassenschande begangen

Am Ostermontag des Jahres 1925 hatte sich Lilia von ihrem Gatten Bodo von Dreiling, einem Junker aus preussischem Verdienstadel und Oberleutnant des letzten Krieges, zum Altar einer kleinen Dorfkirche führen lassen, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft des grossen Gutshofes befand, dessen neue Herrin sie, die “Spartakistin”, nun werden sollte. So sitzt die vormalige Revolutionärin an einem Herbsttag in ihrem Wohnzimmer, als ihr zwölf Jahre älterer Gemahl eintritt:

 

Bodo: Schatz! Es ist Post für dich gekommen. Ein Brief aus Berlin.

 

Lilia, seinen Kuss empfangend: dassbin ich aber neugierig. 0, ein Brief von Dagmar, meiner Freundin!

 

Bodo: Hat unser Kind sich heute schon bemerkbar gemacht?

 

Lilia: Ja, mein Bester. Vorhin hat es sanft gegen meinen Bauch getreten. Wenn es, wie ich glaube, eine Tochter wird, soll sie Rosa heissen. Möge sie auch einmal eine solch tapfere Kämpferin wie Rosa Luxemburg werden.

 

Bodo: Wenn es eine Tochter wird, soll sie Monika heissen, wie meine kleine Schwester, die leider so früh verstorben ist. Mein Schatz (er küsst sie wieder), du bist die wunderbarste Frau, die ich mir vorstellen kann. Ich bin der glücklichste Ehemann.

 

Lilia: Es ist nicht schwer, einen Ehemann glücklich zu machen - wenn er liebt und wiedergeliebt wird.

Bodo, der sich vor ihr niedergekniet hat, lässt nun seinen Kopf auf ihren Knien ruhen. Weisst du noch damals, Anfang März, als du mir auf der Strasse in Berlin eines deiner Flugblätter in die Hand drücktest und mich fragtest: “Sie sind doch sicher auch ein Mann, der sich gegen Ungerechtigkeit einsetzt und für die Geknechteten streitet?”

 

Lilia lächelnd und seinen Kopf streichelnd: Ja. Damals warb ich für die Reichspräsidentenschaft Ernst Thälmanns.

Bodo: Und du sahst mir in die Augen, so dass mir für einen Augenblick das Herz stehenblieb. Ich war, wie man so sagt, wie vom Blitz getroffen.

 

Lilia: Mir erging es ebenso. An sich hätte ich so einem vornehm gekleideten Mann nie ein Flugblatt in die Hand gedrückt, denn es war offensichtlich, dass er unser Klassenfeind war. Aber wieso ich trotzdem auf dich zugegangen bin, vermag ich nicht zu sagen.

Bodo: Vielleicht war es eine höhere Hand, die uns zusammenführen wollte.

 

Lilia: Ja, so kommt es mir nachträglich ebenfalls vor, obwohl ich damals alles, was mit Religion und Gott zusammenhing, als Pfaffenblendwerk und Beruhigungsopiat angeprangert habe. Vielleicht gibt es doch einen Gott.

 

Bodo: Und als ich damals den Wahlaufruf gelesen hatte, näherte ich mich dir wieder, nannte meinen Namen unter Weglassung des “von”, und, um dich näher kennenzulernen, fingierte ich ein grosses Interesse am Sozialismus und bat darum, dich in ein Café einladen zu dürfen, in welchem wir über die Ideen von Karl Marx sprechen könnten.

 

Lilia: Mein Lieber, glaubst du, ich hätte damals nicht gleich gespürt, dass dein Interesse einzig und allein mir galt und nicht dem Sozialismus? Doch bevor ich mich recht besinnen konnte, hatte ich schon auf dein Anerbieten ja gesagt. Eine heimliche Macht liess mich dir folgen.

 

Bodo: Und schon ein paar Tage später besuchtest du mich in meinem Hotelzimmer.

 

Lilia: Du warst für mich wie ein Magnet. Ich konnte nicht widerstehen. Ich habe seit unserem Gespräch im Café nur noch an dich gedacht.

 

Bodo: Mir ging es ebenso. Glaubst du, dass unser Kind schon Frucht dieses ersten Hotelbesuches ist?

 

Lilia: Das kann durchaus sein. Nach meiner damaligen Empfängnismöglichkeit zu urteilen, ist es sogar höchst wahrscheinlich. Ich weiss es deshalb noch genau, weil ich vierzehn Tage vorher anlässlich eines Wahlvorbereitungsgespräches mit Thälmann plötzlich Krämpfe bekam.

 

Bodo: Wird es ein Sohn werden?

 

Lilia: Nein, es wird eine Tochter.

 

Bodo: Woher willst du das so bestimmt wissen?

 

Lilia: Mein Gefühl sagt es mir. Ausserdem ist es mein Wunsch.

 

Bodo: Mir ist es einerlei, ob Junge oder Mädchen. Hauptsache, wir erhalten irgendwann einen Stammerben, der unseren Adelstitel weiterträgt.

 

Lilia: Mein Liebling! Ich wünschte, unsere Kinder würden ohne “von” zur Welt kommen und nie etwas Besseres sein wollen als andere.

 

Bodo: Das sollen sie ja auch nicht. Aber schliesslich hat Gott doch Klassenunterschiede geschaffen.

Lilia: Ja, wenn er sie geschaffen haben sollte, dann doch nur mit der Verpflichtung, dass wir aus Liebe zu unseren Mitmenschen diese Klassenunterschiede aufheben.

Bodo: Du hast ja recht, mein Liebling. Aber solange mein Vater lebt, dürfen wir ihm eine solche Schmach nicht antun. Er würde vor Kummer sterben. Ich will dich jetzt deinen Brief lesen lassen. Ich werd’ mal in den Stall gehen und sehen, wie es der Rusalka geht. An ihrem rechten Vorderhuf hat sich ein Eiterherd gebildet.

Lilia: Ach, ausgerechnet die Rusalka! Sie ist doch dein Lieblingspferd, nicht wahr?