Meersburger Fasnach

In den deutschen Landen mit überwiegend katholischer Bevölkerung ist es auch in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts noch Brauch, die Tage vor Beginn der Fasten- und Passionszeit, welche erst mit der Auferstehung des in der Vorstellung regierenden Heilands zu einem Ende gelangt, mit närrischem Treiben mannigfaltiger Art ausklingen zu lassen. Man sagt sich symbolisch von der zu „tierisch“ ernsten Verhaftung am Körperlich-Fleischlichen (carne vale!) los, indem man all die Dinge, die eben jenes Fleisch „schwach“machen, in einem Sinnen-Orgasmus zu erschöpfen versucht, in dessen Ekstase dem so exaltierten Menschen der Spiegel seiner Laster in der Verzerrung und Pervertierung vorgehalten werden soll. Hat sich also ein solcher Mensch ausgetobt und ist sich hernach seiner Sündhaftigkeit bewusst geworden, sollte er bei sich „Einkehr“ halten und all die Fehler des vergangenen Lasterjahres in stiller Busse bereuen, um den „Herrn und Heiland“ auf seinem Leidensweg in tiefer Trauer begleiten zu können und am Ostertag mit „gereinigter Seele“ für das weitere - anfänglich wenigstens - „geläuterte“ Jahr „mit auferstanden“ sein zu dürfen. So wird dieser Karneval und Fasching oder diese „Fastnacht“, wie es im Badischen heisst, auch allerorten im Bodenseebezirk des Bistums Konstanz gefeiert und mit besonderem Prunk innerhalb der mittelalterlichen Kulissen des Schlossstädtchens Meersburg begangen. Am Sonntag, zehn Tage vor Aschermittwoch, jenem ersten Tag der inneren Einkehr, wird der wohl fünfzehn Meter lange und aus seiner Rinde geschälte Narrenbaum mit grossem Trara hinauf in die Oberstadt gezogen und auf dem Marktplatz aufgestellt, nachdem er in seiner Krone mit einem grossen Kranz umwunden wurde, an welchem so manche Leckereien baumeln, die von der erwachseneren und zum Ergötzen der Zuschauer sich oftmals vergeblich bemühenden Jugend am eingeseiften Stamm hinauf zu erklettern und mit einer im Munde oder in der Tasche bereitgehaltenen Schere abzuschneiden sind. An jenem Tage wird auch der sich um das Wohl seiner Bürger bemühende Stadtrat durch einen neu gewählten Narrenrat „ent-setzt“, der seine Regierungsbeschlüsse für die „Närrische Zeit“ lauthals verkündet, wobei wir ohne allen Umschweif feststellen können, dass die Herren Obrigkeitsnarren nicht von erstaunlicher Einfallskraft und sprühendem Geisteswitz beflügelt werden wie zuweilen unser gefalterter Stadtpoet, denn die narrengesetzliche Bekanntmachung, das Feuerwehrauto schon an den Ort der zukünftigen Brandstätte befördern oder das Licht nur noch am Tage brennen zu lassen, zeugen eben nicht von höherem Geist.

Ihren Höhepunkt, wenigstens was den Lärm und die Länge des Trubels angeht, findet die Meersburger Fastnacht jedoch an ihrem letzten Donnerstag. Um vier Uhr morgens versammelt sich die Jugend und beginnt mit laut störendem Spektakel, der sogenannten „Katzenmusik“, durch die Strassen zu ziehen, indem sie unter „Miauen“ die Deckel von Kochtöpfen scheppernd aneinanderhaut, durch schrille oder dröhnende Blasinstrumente quiekt oder schmettert, mit Stöcken auf weithallende Geräuschmacher einschlägt, an allen Haustüren Sturm läutet, wie Trunkene krakeelt und Kracher und Feuerschwärmer zu aufblitzenden Dönnerchens zerplatzen lässt. Unter den miauenden Lärmemachern befinden sich auch einige Barackenkinder, die heute von ihren sich für Anderweitiges viel zu beschäftigt zeigenden „Stadtfeinden“ nichts zu befürchten haben, dassjene allzusehr angestrengt sind, ihre überschüssige Kraft durch dieses alljährliche Aggressionsventil vorläufig erst einmal auspuffen zu lassen. Und die Verwegensten unter ihnen haben schon damit begonnen, die grössten Blitzer brennend in Briefkästen zu werfen, um mit diabolischer Genugtuung einen grösseren Effekt des Knalles sowie des angerichteten Schadens zu erzielen. Hermann beobachtet den Metzger-Emil, wie jener einen Höllenzischer mit dem Streichholz anzündet, dabei aber wohl zu unbedacht vorgeht, denn der krachende Feuerstrahl sprüht aus der ihn umklammernden Hand, deren Besitzer laut aufschreit und sogleich die entstandenen Hautabfetzungen fluchend besieht. Der älteste Dichtersohn muss lachen, unbändig lachen, so dass den noch immer Zeternden die Wut überkommt und er dem verhassten Barackenlümmel mit Fusstritten zu Leibe will, denen sich dieser aber durch die Flucht in das krakeelende Gemenge entziehen kann.


Der frühe Nachmittag beginnt mit dem „Frauenumzug“. Hier erblicken wir Erika Loderer als Zigeunerin unter den sich gackernd fortbewegenden Hennen und Hennleins, wie sie hier und dort aus der kostümierten Schar mit ihren dunkelrotgefärbten Lippen ausschert und so manchem der am Rande zuschauenden Hähne einen klebrigen Flüchtlingskuss auf die „alteingesessene“ Wange presst, dessen Abdruck vorläufig unverwischbar bleibt. Diesem Häuflein folgen zwei mit grossen Flügeln und langen weissen Nachthemden ausgestattete Engel - es sind Mechthild und Gerhild -, die den von Bröckelbergers ausgeliehenen Handwagen ziehen, in dem auf einem Nachttopf, mit Schnuller im Munde und die Rassel in der Hand schwingend, das vollbusige und rotwangige „Baby“ Rosa sitzt und der gaffenden Welt Grimassen schneidet. Ja, es scheint ja den Flüchtlingen so gut zu tun, einmal allen Ernst vergessen zu dürfen und sich somit für kurze Zeit völlig von allen Hoffnungsanklammerungsversuchen lösen und entspannen zu dürfen.

 

Und bald darauf versammeln sich die Kinder am Schützenhof, aus welchem pünktlich um drei Uhr der mit einem langen grünen Hemd samt Kapuze und mit einem etwa drei Fuss langen roten Schnabel ausstaffierte „Schnabelgiere“ hervortritt und aus jenem an seinem Bauch befestigten dicken Sack Spezereien wie Nüsse, Obst, Back- und Zuckerwaren unermüdlich hervorholt und sie der mit viel Gejohle seinen Namen immer wieder taktartig schreienden und vor ihm herlaufenden Kinderschar entgegenwirft, während einige seiner grobschlächtigen „Adjutanten“ die luftgefüllten, ein bis zwei Handspannen grossen Schweinsblasen, die mit einer Schnur am Stock befestigt sind, auf die sich Bückenden, Rangelnden und sich drängelnd Schiebenden mit hohlhopsendem Dröhnen fallen lassen.

 

Und unter letzteren befindet sich ein wangengebräunter Indianerriese mit Stirnband und langer, am Hinterkopf nach oben stehender Hahnenfeder, der eine kleine blondbezopfte und ebenfalls befederte Indianerin bei der Hand hält und ihr die meist von ihm schon in der Luft aufgefangenen süssen und kernigen Geschosse überreicht, die diese in ein schon fast gefülltes Täschchen verschwinden lässt. Und als der „allerletzte“ Mohikaner sich beim Bücken nach einem kullernden Apfel zu sehr der dem närrischen Kindertreiben mit Wohlbehagen zusehenden Zuschauermenge naht, ruft der Stadtschreiber Wohlers dem zwischen seinen Füssen Tastenden zu: „Aber Herr Doktor! Was suchen Sie denn unter den Kindern? Sie sind doch erwachsen! Wo bleibt Ihre Dichter- und Doktorwürde?“ Und der so angeredete Unkas (= der letzte Mohikaner) richtet sich, den Apfel strahlend in der Hand haltend, vor dem Schreiber auf und sagt: „Aber lieber Herr Wohlers, begreifen Sie denn nicht? Ich stelle einen indianerspielenden Jungen dar, und dies ist meine kleine Squaw Irmgard!“ Dieser überreicht er nun seine Siegesbeute, und alsbald stürzen sich beide wieder hinein in die mit Friedensgeschossen bombardierte Kinderfront.

 

Und als unser Mokassinträger - denn die extra für seine Fusslänge einstmals hergestellten Bastschuhe sollen heute als solche angesehen werden - sich bei Dämmerung, an jeder Hand eine seiner vom „Schnabelgiere“-Schreien heiser gewordenen und noch ereignistrunkenen Töchter führend, auf dem Nachhauseweg befindet, denkt er an die ausgelassene Kinderfröhlichkeit des heutigen Tages zurück: Ja, glücklich, wer auch noch im Alter als Kind fühlen und dessen Freuden nachvollziehen kann. Zu diesem Thema sollte sich doch einmal meine Inspiration etwas einfallen lassen.