Lebendiges Sein

Unser Dichter befindet sich im Zimmer des Hotels „Grünwald“, das direkt am Hauptbahnhof Münchens gelegen ist. Er ist soeben aus dem Hotelrestaurant zurückgekehrt: Ja, das hat gut getan, einmal wieder richtig gegessen zu haben. Die ewigen Suppen- und Pellkartoffelgerichte in der Baracke waren kaum noch auszuhalten. Nicht dass ich jeden Tag königlich speisen müsste, aber doch hin und wieder einmal, das ist doch sehr wichtig für mich. Man muss doch manchmal im Licht stehen dürfen, um in der wieder werdenden langen Dunkelheit Hoffnung auf ein wiederkehrendes höheres Leuchten in sich tragen zu können. Wie lange hatte ich keinen Rehrücken mehr gegessen? Ja, seit meiner Hochzeit mit Gerda. Nur nicht an ein so reines Licht der glücklichsten Liebe denken, denn so etwas wird mir in meiner irdischen Dunkelheit nie wieder werden. Nein, Liebe, so wie sie einst in mir glühte, wird es für mich nie wieder geben können. Darauf muss ich Verzicht leisten und froh sein, sie überhaupt erlebt haben zu dürfen. Somit bin ich schon zufrieden, wenn ich einmal grossartig essen gehen kann. Ja, ich sollte mich darauf beschränken, Liebe zu geben, anstatt Liebe zu fordern. Ich sollte Lilia mit meiner ganzen Seele lieben. Ich sollte.... aber ich kann ja nicht! Ist es denn meine Schuld? Molar beginnt sich auszuziehen. Er gähnt. Ja, ich bin müde. Weiss Gott, ich habe heute einen langen Tag gehabt. Über hundert Paar Schuhe verkauft. Ja, der arme Schaffner - er muss beim Gedanken an diesen lachen -, dem habe ich schön den Kopf verdreht. Ich hätte ihn lieber umarmt, diesen gutgläubigen Menschen. Der Gepäckträger hat heute Augen gemacht, als ich ihm zwanzig Mark als Trinkgeld gab. Immerhin hat er ja die ganze Zeit mit dem Gepäck vor dem Restaurant gewartet. Was hatte er mir noch beim Abschied gesagt: „Darf ich Ihnen, werter Herr, die Hände schütteln? Ein solch hohes Trinkgeld habe ich in meinem bescheidenen Dienstleben noch nie erhalten. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Sie scheinen mir jemand aus einer höheren Welt zu sein. Ist es gestattet, den Namen des grosszügigen Spenders zu wissen?“ Ja, es ist schön, anderen eine Freude machen zu können.

 

Der Grosszügige steigt nun ins Bett. Das ist doch mal wieder ein richtiges Federbett. Auch die Matratze ist gleichmässig weich und nicht wie die unsrigen in den Baracken mit verrutschtem Stroh und Heu gestopft. Das ist so richtig ein Himmelbett, gerade richtig, um himmlische Einfälle zu erhalten. ... Ach ja, die Freiherrin. Sie scheint mir wahrhaftig aus einer höheren Welt zu stammen. Was sagte sie noch? Ich solle meine Gedichte und nicht Schuhe verkaufen? Meine Gedichte müssten an die Menschen herangetragen werden, ja, so drückte sie sich aus. Ich selbst müsste es tun. Ich zweifle jedoch, ob Leute ihr Portemonnaie für etwas öffnen, was die Seele angeht, denn man zahlt nur willig für das, was man auch anfassen kann wie zum Beispiel die Bastschuhe. Aber Gedichte, Worte, an das Gewissen mahnende Zusprüche und Auftrieb verleihende Lebensaufmunterungen, nein, dafür zahlt keiner etwas, oder doch nur sehr wenige. Natürlich wäre es gut, wenn ich das Ideelle mit dem Materiellen verbinden könnte, denn wenn auch der Geist mich beflügelt, so muss doch mein Körper am Leben gehalten werden. Ausserdem bin ich ja noch an andere Körper gekettet, deren Bäuche auch materiell gefüllt sein müssen. Ja, das wäre wunderbar, wenn ich mit meinem inneren Beruf als Dichter auch meiner äusseren Verpflichtung als Familienvater nachkommen könnte. Aber warum nicht? Ich muss es einfach einmal ausprobieren. Ich kann ebenfalls in den Zügen reisen und biete anstatt der Bastschuhe meine Gedichte an. Ich könnte zum Beispiel vier Gedichte auf eine handspannengrosse Doppelseite drucken lassen, Gedichte auf jeden Fall, die den Leser ansprechen. Zum Beispiel wäre das Gedicht „Geborgenheit“, „Der weise Hirt“, „Liebet den anderen“, „Weisung“ und natürlich „Zuspruch“ und ... na ja, ich muss noch auswählen. Ja, und wer sich durch diese vier Gedichte angesprochen fühlt, dem kann ich ja den zu druckenden Band mit meinen gesammelten Gedichten zum Kauf anbieten und gegebenenfalls an Ort und Stelle signieren. Nun, ich muss dann auch erst noch einen Verleger finden, was schwierig sein dürfte. Aber ich habe Vertrauen in meine Sendung, die es doch trotz aller Schicksalsschläge gut mit mir zu meinen scheint. Ja, es wird schon gelingen. Welchen Namen soll ich nur meinen gesammelten Gedichten geben? Er muss ansprechend und zugleich zutreffend sein. Meine Gedichte handeln vom Leben, atmen Leben, sprechen vom ewigen Werden. Ich sollte den Titel „Lebendes Werden“ wählen. Das hört sich gut an, fünfmal „e“. Aber ist nicht jedes Leben ein Werden und jedes Werden lebend? Somit ist es doppelt gemoppelt. Nein, ich muss es „kämpfendes“ oder „schaffendes Werden“ nennen, denn solange man wird, kämpft und schafft man. Aber jeder dieser Namen weist auf ein ewiges Auf und Ab im Wellenspiel des Lebens hin. Der Mensch benötigt doch auch Besinnung, das ist es doch, was meine Dichtung veranlassen will. Und diese Besinnung erfordert doch auch eine Ruhe, ein Um-sich-Schauen und nicht eine ewige Hetze und ein Nur-immer-vorwärts-Stürmen. Weiterhin sprechen doch meine Gedichte von dem Sein des Lebens, ja, von dem An-sich-Sein. Dieses soll den Menschen in seinem Nach-vorne-Stürzen für einen Augenblick anhalten und ihn an sein eigentliches Sein gemahnen. Ja, das „Sein“ muss mit in den Titel, das steht fest. Aber wie ist dieses Sein beschaffen? Es muss jeden Tag neu errungen werden. Das sich drehende Rad darf nicht nur an die holprige Strasse denken, sondern es muss sich als Rad begreifen und sich als Zugehörigkeit zu einer Einheit, dem vielrädrigen Wagen nämlich, erkennen. Dann teilt sich ihm ein höherer Sinn mit, und der steinige Weg erscheint nicht mehr als Un-Sinn. Dem Menschen zuzurufen: „Besinne dich auf dein Selbst, sei!“ Das ist doch die Aufgabe meiner Lyrik. Ja, der Titel „Sein“ ist richtig. Weiter. Wie ist dieses Sein nun beschaffen? Es lebt, es atmet, aber es darf nicht keuchen wie das Werden. Ja, es ist angereichert mit Leben, es ist gefüllt mit Leben. Ich habe es: „Gefülltes Sein“, das ist gut. „Gefülltes Sein“, „gefülltes Sein“? ... nein, doch bloss nicht diesen Titel, das klingt ja wie „gefüllte Gans“. Dann schon lieber „Erfülltes Sein“. Ja, das ist es! ... Ach, es ist so schwierig, einen Titel zu finden. Aber „Erfülltes Sein“, das klingt, als ob es sich um die Lyrik eines Greises handelte, der die Ernte seines Lebens schon in die Scheune eingefahren hat und darüber eine Inventur in Versen fabriziert. Nein, das geht auch nicht, denn wenn etwas erfüllt ist, dann ist es ruhig, zur Ruhe geraten, vielleicht sogar gleichgültig oder selbstgefällig im Sinn von: Nun, ich hab’ es geschafft, ich bin auf meiner ruhigen Insel gelandet, treibt ihr ruhig noch weiter auf den Wellen des Lebens. Nein, das Wort „erfüllt“ kann ich nicht wählen. Es muss ein Adjektiv sein, das einen Gegensatz zu „Sein“ bildet und doch kein Gegensatz ist. Ach, ich bin jetzt zu müde, um noch weiterhin nachzudenken. Und auf seine Armbanduhr schauend: 0 Gott, es ist ja schon Zeit für den ersten Hahnenschrei. Jetzt aber schlafen und Kräfte sammeln für den morgigen Tag. Ja, wenigstens e i n e n  Drucker muss ich noch vor Mittag aufgesucht haben. Auch muss ich vorher noch die Auswahl für die vier Gedichte getroffen haben. Und dann...

 

Wir können das Haupt unseres Wortgewaltigen jetzt auf seinem Kissen ruhen lassen. Aber selbst im Schlafen stürmt es doch manchmal in diesem, und der darin webende Geist begibt sich auf Wanderschaft, besieht sich womöglich Erbauliches oder gar Schreckliches. Er mag lernen. Er mag Mut schöpfen zur frischen Tat für den kommenden Tag. Oder es muss ihm immer noch beigebracht werden, das Hässliche und drohend Widerwärtige zu besiegen, anstatt sich davon besiegen zu lassen. Ist nun das Leben ein Spiegel des Traums oder der Traum ein Spiegel des Lebens? Nun, wir wollen uns nur mit dem befassen, was uns zukommt. Und uns ist erlaubt, auch, wie wir schon sagten, in den Träumen Einfluss zu nehmen. Und das Resultat eines solchen zeigt sich sogleich bei dem Erwachen unseres nachtwachenden Tagträumers.

 

0 Gott, es ist schon elf Uhr. Und ich wollte doch noch vor zwölf beim Drucker gewesen sein. Ja, das war ein interessanter Traum. Ich sah zwei komische Gestalten im zeit- und raumlosen Sein sitzen, und der eine schrieb in einem dicken Buch, während er ab und zu dem Danebensitzenden erklärte und dann mit dem Finger auf mich wies. Dann lächelten mir beide freundlich zu, und der Schreiber winkte mir, und als ich näherkam, deutete er mit dem Finger auf eine Zeile im Buche und dassstand: „Lebendiges Sein“. dasswusste ich sofort, dass dies der Titel meines Gedichtbandes sein sollte. Wunderbar! Und dann zeigte diese komische andere Person auf meine Armbanduhr, und als ich daraufschaute, war es genau elf Uhr. Jetzt will ich doch mal eben auf die Uhr sehen. Es ist... Nein, das darf doch nicht wahr sein! Genau elf!

 

So, jetzt keine Nachgrübeleien mehr. Aufstehen! Der Tag ruft dich zu neuem Beginnen. Lass das Rad wieder über holprige Strassen rollen, es hat im Traum sein Sein erfahren. Ich muss sogleich einen Drucker finden. Aber erst noch schnell frühstücken. Ich werde auf die Klingel drücken, damit der Zimmerkellner mir das Gewünschte sofort bringen kann. Heute bestelle ich mir einmal vier weichgekochte Eier. So viele habe ich schon seit der Vorkriegszeit nicht mehr auf einmal gegessen. Solange ich noch in Geld schwimme, will ich auch gut leben. Für das Hungern habe ich noch immer Zeit gefunden. Mein „Sein“ soll sich auch im Bauch „lebendig“ fühlen können.

 

Und bald holpert sein Rad - dürfen wir hinzufügen, dass es trotz der vielen erfahrenen Stösse ein Glücksrad ist - über das steinige Pflaster Münchens.