Kapital und Revolver

Am Nachmittag steigen die beiden Möbelholer in Bäringen aus dem Bus, bevor dieser weiter am Kindel vorbei nach Eisenach fährt. Vor vier Jahren hatte Wahrfried sein Heimatdorf verlassen. Aber er kennt noch die Strassen und Häuser und weist seiner Stiefmutter den Weg zur Apotheke, deren Aussenwände mit gelbgestrichenen Schieferplatten versehen sind, weshalb dieses Gebäude geradezu als ein herrschaftliches Haus angesehen werden kann. Ihm gegenüber am anderen Ende des durch die Strassengabelungen geschaffenen Platzes erkennt Wahrfried die „Gänsewiese“ mit den Apfelbäumen wieder. Ja, dort war es, als ich einen grösseren Stein aufhob und ihn in die Zweige werfen wollte, um in einen herunterfallenden Apfel beissen zu können. Doch dann prallte der Stein vom Ast zurück und landete auf meiner Stirn. Ich hatte viel Blut verloren, und die Wunde musste vernäht werden. Ich kann die Narbe noch mit meinen Fingern betasten.

 

Darf ich fragen, warum du in unserem Buch dieses Ereignis einblendest? Ist es überhaupt erwähnenswert, wo es dir doch angeblich darum geht, nur das Wichtigste zu skizzieren?

 

Du darfst dich darauf verlassen, dass ich unser Augenmerk nur auf Wichtiges und Wichtigstes lenken werde. Der Apfel und der Stein sind natürlich Symbole und haben für Wahrfrieds Leben eine höhere Bedeutung.

 

War es also höhere Absicht, ihn dieses Ereignis als Kind erleben zu lassen?

 

Alle grossen Begebenheiten im Leben eines einzelnen - und nicht nur dort - sind geplant und erfüllen ganz bestimmte Funktionen, von denen der Betroffene allenfalls eine dunkle Ahnung hat. Eines jeden Menschen Leben ist bedeutend genug, um eingekleidet zu sein in beziehungsvolle Geheimnisse, und dies gilt in besonderem Masse von eines jeden Jugend. Später, wenn der Mensch sich wieder in einen Geist verwandelt und einen gewissen Grad in seinem Läuterungsprozess erreicht hat, wird er die symbolischen Steinchen in dem Mosaik seines vergangenen Erdenlebens genau erkennen können und über die grossartige höhere Planung und Lenkung darin staunen müssen. Vielleicht wird sich dir auch einmal aus den vielen Mosaiksteinchen unserer Betrachtungen ein weiträumigeres Bild deiner Vorstellung einprägen. Habe also Geduld. Sie ist übenswert. Wollen wir uns nun wieder der gemeinsamen Arbeit an der epischen Mosaikbildzusammenstellung zuwenden, dass wir so manch anderes Steinchen noch in unsere Vorstellung hineinzusetzen haben, bis sich ein vorgestelltes Ganzes ergeben kann.


In der Lindenapotheke hantiert der alte, brilletragende Apotheker Bröckelberger hinter dem Ladentisch. Er trägt einen weissen Kittel, auf dessen rechtem Oberarm sich eine schwarze Binde abhebt. Er hatte sich diese Apotheke vor zweiundvierzig Jahren nach Jahren harter Arbeit erworben und nach und nach abbezahlt. Jetzt hat man ihn enteignet. Er ist in seinem eigenen Haus nur noch Angestellter des sich für eine „unabhängige“ Neuentstehung vorbereitenden Staatsgefüges und muss überdies auch noch den Weisungen eines achtundzwanzigjährigen Kollegen folgen, der ihm als Vorgesetzter beigegeben ist.

 

Bröckelberger: Herr Becker, wir haben schon seit drei Wochen kein Glaubersalz mehr.

 

Becker: Ja, Herr Bröckelberger, dassmüssen die Leute halt etwas anderes einnehmen. Ich fahre erst wieder am Monatsende nach Gotha, um Medikamente zu holen. Ausserdem soll die Bäringer Kundschaft froh sein, überhaupt etwas am eigenen Ort bekommen zu können.

 

Bröckelberger: Ja, der Herr Becker hat kein richtiges Verhältnis zum Apothekerberuf. Hierzu gehört Menschenliebe, Dienst am Nächsten. Wenn ich noch zu bestimmen hätte, dann würde ich sofort in Gotha antelephonieren und mir das Fehlende zuschicken lassen. Eine gute Apotheke muss immer alles Nötige auf Lager haben. So habe ich es wenigstens immer gehalten. Aber Herr „Genosse“ Becker will natürlich in die Stadt. Er kann nicht verstehen, warum er als Parteimitglied hier auf ein Dorf verbannt worden ist. Jaja, diese Stadtbesessenen, diese Ehrgeizlinge nach Rang und Würden! Auch mir hatte man einst eine Stadtapotheke zur Pacht angeboten. Ich bin froh, auf dem Lande sein zu dürfen und viele Waldspaziergänge unternehmen zu können. Nun, dasskommen zwei mir Unbekannte herein, Mutter und Sohn, wie es scheint. „Opa!“, so ruft Wahrfried aus und läuft auf seinen Grossvater, zu, der, hinter dem Ladentisch hervortretend, sein Enkelkind umarmt.

 

Bröckelberger: Und Sie sind wohl Lilia Bröckelberger?

 

Lilia: Jawohl, Klaus Friedrich. Ich bin Hans Winfrieds Frau.

 

Bröckelberger: Ach, das ist ja wunderbar, dann gehen wir doch gleich in meine Wohnstube nebenan. Meine Haushälterin wird uns einen Kaffee bereiten. Darf ich Ihnen, Herr Becker, meine Schwiegertochter und mein Enkelkind vorstellen?

 

Becker: Angenehm. Sind Sie mit dem Zug nach Thüringen gekommen?

 

Lilia: Warum fragt er nur? Will er mich aushorchen und eventuell denunzieren? Ja, wie ich sogleich bemerkt habe, trägt er ein Parteiabzeichen auf seinem weissen Kittel. Aber mir kann ja nichts mehr passieren. Nein. In der Eile konnten wir keine Genehmigung für den offiziellen Grenzübergang erhalten.

 

Becker: Ja, ich bin verpflichtet, sie bei der Polizei anzuzeigen. Wenn ich es nicht tue, wird mir vorgeworfen, dass ich meiner Pflicht als Parteimitglied nicht nachgekommen bin. Das könnte wiederum für mich unliebsame Konsequenzen haben.

 

Bröckelberger: Nun, ihr Lieben, lasst uns nach drüben gehen.

 

Becker: Herr Bröckelberger! Es ist noch kein Dienstschluss!

 

Nach diesen Worten dreht sich Lilia um, zieht ihren Briefumschlag mit den beiden Bescheinigungen hervor und reicht dem Unverschämten die in deutsch verfasste Version ihrer Trumpfkarte, die der junge Apotheker sogleich durchzulesen beginnt.

 

Becker: 0, entschuldigen Sie bitte, Frau Genossin. Es ist mir eine Ehre, Sie in unserem Hause zu wissen. Ja, Herr Bröckelberger, gehen Sie nur bitte mit Ihrem Besuch in Ihr Zimmer, es gibt hier sowieso nicht viel zu tun. Donnerwetter, das muss ich dem Genossen Abel erzählen. Der wird Augen machen. In der Bröckelberger Familie eine Thälmanngenossin! Wer hätte das für möglich gehalten!


Bröckelberger: Ihr Lieben, darf ich euch meine Haushälterin, Frau Kiesewetter, vorstellen. ... Sie hat sich in liebenswerter Weise um meine so lange krank gelegene Frau bemüht. Früher hat Hans Winfried mit seiner Familie oben gewohnt, aber diese Zimmer haben jetzt, nachdem der russische Oberst ausgezogen ist, Herr Becker und seine Frau bezogen. Ihr beide könntet während eures Hierseins in meinem grossen Ehebett schlafen, denn ich mag darin sowieso nicht mehr ruhen. Mir kommt es darin zu einsam vor.

Aber bald werde ich mit ihr wieder vereinigt sein. Dessen glaube ich mir gewiss zu sein. Warum habt ihr mir euer Kommen nicht vorher mitgeteilt? Ach ja, ich verstehe schon. Die Post hätte kontrolliert werden können. An was man nicht heutzutage alles zu denken hat! Hoffentlich wird Herr Becker nicht gleich zum Kommissar Abel laufen und ihm erzählen, dass meine Schwiegertochter sich illegal bei uns aufhält. Ich möchte doch nur wissen, was wohl auf dem Papier steht, das sie ihm gezeigt hat, denn das hat ja auf meinen jungen Kollegen einen grossen Eindruck gemacht. Was für ein Papier hast du denn dem Herrn Becker vorgezeigt, wenn ich fragen darf?

 

Lilia: Es ist eine Art Aufenthaltsgenehmigung, die ich in Langensalza bei der Militärpolizei besorgen konnte. Hoffentlich will er es nicht sehen. Schnell ihn ablenken! Wir sind gekommen, um Hans Winfrieds Möbel abzuholen.

 

Bröckelberger: Das ist sehr gut. Nur benutzt Herr Becker sie jetzt.

 

Lilia: Der wird sie uns schon herausrücken.

 

Bröckelberger: Ihr könnt übrigens den Grossteil meiner Möbel mitnehmen. Ich brauche ausser einem Bett, Schrank, Tisch und Stuhl nichts weiter. Unser Ehebett kannst du also gerne haben. Gebt aber auch Heidrun etwas ab. Sie wird vieles sehr nötig haben.

 

Lilia: Ja, natürlich werde ich mit ihr teilen. Das Ehebett gefällt mir gut. Das werde ich für mich und Wini behalten. Heidrun kann unser altes Gestell bekommen, wenn sie Wert darauf legen sollte. Ich werde mich in den nächsten Tagen nach einem Möbeltransporteur umsehen, der noch illegal bei Nacht über die Grenze fährt. Ich habe in Hessen eine Adresse von einem Mann in Eisenach erhalten, der die Dinge in die Wege zu leiten versteht. Ich muss, wenn möglich, noch innerhalb einer Woche mit den Möbeln über die Grenze gelangen, bevor Nikolai meine Flucht bemerkt, denn ich will mich auf keinen Fall beschwatzen oder erpressen lassen, sein „Spitzel“ (Auskundschafter und Übermittler militärischer, politischer, wirtschaftlicher und rein menschlicher Geheimnisse) im Westen zu werden. Und vom Sowjetzonen-Sozialismus bin ich sowieso schon kuriert, denn es ist allzuleicht erkennbar, dass er ins Chaos führt. Ja, wo sind meine kommunistischen Weltbeglückungsideale von früher geblieben? Vielleicht schlummern sie irgendwo noch in mir. Aber ich will sie erst gar nicht aufwecken, denn sie müssten mit Entsetzen die Flucht ergreifen. Was hat man aus meinem verehrten Karl Marx gemacht? Einen entmenschten Theoretiker, der unter seinem „Kapital“ den schussbereiten Revolver hält und sagt: „Willst du nicht, wie ich will, dann musst du aus dem Wege geräumt werden, tot oder lebendig.“