Irgendwann geht es doch wieder bergauf

Die Fahrkarte bitte!“ Der Kartenkontrolleur rüttelt an des noch Traumgebundenen Schulter. Und als Molar die Augen öffnet und sich langsam erhebt, wiederholt jener seinen Spruch.

 

Träume ich noch? Wo bin ich? Was sagten die beiden zu mir, ich sei nur ein Vor-?

 

Die Fahrkarte bitte!“, so tönt es jetzt zum drittenmal, und zwar energischer. Ach ja, ich bin ja auf dem Schiff, und in diesem Mann erkenne ich den Kartenkontrolleur wieder. Entschuldigen Sie, dass ich so langsam reagiere. Ich habe gerade einen eigenartigen Traum gehabt, in welchem sich mir zwei fragwürdige Leute vorgestellt haben. Ja, ich muss mir erst noch eine Karte bei Ihnen kaufen.

 

Und die Frage, ob er nach Meersburg wolle, bejaht unser Zurückverwandelter. Der bemützte Beamte macht ihn nach Überreichung der Fahrkarte darauf aufmerksam, dass er jetzt aufrecht zu sitzen habe, denn es stiegen soeben andere Gäste hinzu. Und während Molar in seine übergrossen Schuhe schlüpft - sie haben die Grösse siebenundvierzig -, gärt es weiterhin in seinen verträumten Gedanken.

 

Wie hiess das Wort noch: Vorläufer? Vorschreiber? Vor ... ? Ach, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht war alles nur Unsinn. Aber manchmal ist es zu dumm, dass man Träume so schnell vergessen muss. Ja, auch habe ich von Lilia als Peitschenschwingerin geträumt. Dort steht mein Sack mit zweiundvierzig Paar Bastschuhen. Ich muss mindestens zwanzig davon noch auf dem Schiff verkaufen. Hoffentlich kommen einige willige Käufer an Bord. Ich werde sogleich die Verkaufstasche mit Schuhen füllen.

 

Und während der zurückkehrende Zurückgekehrte mit seiner Arbeit beschäftigt ist, dringen immer mehr Fahrgäste in den Buffetraum und setzen sich, meist mit einer Tasse Kaffee in der Hand, an einem der Tische nieder. Das Schiff legt nun ab. Es steuert durch die von einem Löwen bewachte Hafeneinfahrt auf den See hinaus. Es ist ein kalter, aber trockener Morgen, und die schneebedeckten Schweizer Alpen sind deutlich zu erkennen. Ja, die Erde sowie viele Gestirne bergen wunderbare Schönheiten, und es ist für mich immer eine Lust, in sie hineinzutauchen und meine Augen zu laben an den Naturoffenbarungen in den Erscheinungen dieser und anderer Welten.
 

Unser Bastschuhverkäufer hat sich in der Mitte des Raumes aufgestellt und beginnt, ein Paar Schuhe in den Händen haltend, die Vortrefflichkeit seiner Ware zu erläutern. Aber gerade in dem Augenblick, als drei Gäste daran denken, ihrer „werten Frau Gemahlin“ einen „Boten des Vorfrühlings“ zu erstehen, tritt der Kapitän, vom Kontrolleur herbeigerufen, hinzu und stellt sich mit seinem dicken Bauch vor den eher hager, aber breitschultrig wirkenden Worte- und Warenkundigen und sagt mit lauter Stimme: „Zeigen Sie mir bitte einmal Ihre Erlaubnis, dass Sie auf meinem Schiff „Ihre Dinger dass verkaufen dürfen! ... Nun, wie ich aus Ihrem Verhalten ersehe, besitzen Sie diese nicht. Ich muss Ihnen leider sagen, dass Sie den Verkauf auf meinem Schiff sofort einzustellen haben, widrigenfalls ich mich genötigt sähe, die Polizei in Friedrichshafen zu verständigen.“ Und der sichtbar Betroffene entgegnet: „Ja, aber lieber Herr Kapitän, Sie haben doch bei meiner letzten Fahrt selbst zwei Paar Schuhe gekauft.“

 

Kapitän: Schuhe nennen Sie das? Zweimal hatte meine Frau die ihrigen angezogen, und schon gingen sie aus den Binsen. Und fünfzehn Mark haben Sie mir dafür abverlangt, eine Unverschämtheit, eine Gaunerei! Solche Leute wie Sie sollte man ins Gefängnis werfen lassen, diese Betrüger!

 

Nach diesen Worten verlässt der Kapitän die erschrockenen Fahrgäste, die sich um Molar, jenen Schwindler, geschart haben, der uns billige Ware für teures Geld andrehen wollte. Ja, man darf heute keinem Verkäufer mehr trauen. Sie sind alle Halunken. Am besten, ich kümmere mich gar nicht mehr um ihn. Ich bin heilfroh, dass ich ihm noch nicht das Geld bezahlt habe.

 

Der zutiefst getroffene Doktor packt seine Schuhe in den Sack zurück. Er hatte noch zu erklären versucht, dass die Schuhe der Kapitänsgemahlin wohl nass geworden sein mussten, ja, er wollte auch wieder jemanden an einem Bastgeflecht seine Zerstörungskraft ausüben lassen, aber nun hat alles keinen Zweck mehr. Nein, keiner würde jetzt auch nur zwei Mark für ein Paar Schuhe entrichten wollen, denn wer möchte sich in den Augen der anderen als ein Tölpel betrachtet wissen?

 

Und der Verzagte zieht seinen wieder fest verschnürten Sack aus dem Raum hinaus, in welchem er sowohl einen seiner erstaunlichsten Triumphe als auch eine seiner zermürbendsten Niederlagen erlitten hat, und befördert ihn zur Reling, von wo aus er auf das nahegelegene Ufer hinüberblickt. Aber er erkennt es nicht als solches, denn seine Blicke sind erstarrt und haben sich seinem Elend zugewandt: Wohin ist mein Glücksstern gezogen? Ist er untergegangen? Diesen Kapitän, ich hätte ihn ohrfeigen können, diesen gemeinen Kerl. Nun ja, nur keine Gewalt. Aber ich hätte auf jeden Fall ein klärendes Gespräch mit ihm führen sollen. Jetzt komme ich nur mit ein paar Pfennigen nach Meersburg zurück. Was wird Lilia sagen? Sie wird eine grosse Szene machen, wird ihre Koffer wieder packen. Ihre Damen werden mich verachten. Sie alle warten auf Geld. Es ist leichter, ein eintöniges, aber ausgewogenes Leben zu haben, das von einem tagtäglich gleichen Rhythmus durchpulst ist, als auf den hohen Wellenkämmen der sturmentbrannten See reiten und mit ihnen stürzen zu müssen. Vor einigen Tagen fühlte ich mich noch so gross. Jetzt aber... Ich könnte weinen. Aber dann müsste ich mich selbst verachten. Nur keine Tränen. Wie viele Male habe ich schon ähnlich fatale Situationen durchleben müssen, und irgendwann geht es doch wieder bergauf. Wer weiss, vielleicht unterliegen alle Schicksalsschläge einer höheren Notwendigkeit. Ja, lass dich nicht unterkriegen, fass wieder Mut. Lach über die Welt und ihre Verdriesslichkeiten. Trotzdem, Lilia braucht Geld. Ich habe überhaupt keine Lust mehr, je wieder Schuhe zu verkaufen. Wenn doch bloss meine Gedichte schon gedruckt wären. Ich muss auch mit Herrn Pfaff nochmals in aller Ruhe verhandeln. Schliesslich habe ich ihm doch schon viel Geld vorausbezahlt. Ach ja, immer wieder geht es ums leidige Geld. Wie schön wäre es, wenn ich leben könnte, ohne auch nur einen Pfennig berühren zu müssen. Ja, ich muss mal wieder zur „Notbremse“ greifen. Ich besitze ja noch hundertfünfzig Gramm Morphiumpulver und etwas Opium. Ich könnte ersteres nochmals Klaus Eberhard in Konstanz anbieten. Im letzten Jahr hat er mich dafür gut bezahlt. Hoffentlich werde ich nicht wieder verraten wie vor zwei Jahren in Hersfeld, als ich nur mit Mühe einer Verhaftung entgehen konnte. Wenn die badische Polizei davon erfährt, werden sie eine Hausdurchsuchung bei mir vornehmen. Aber kein Mensch ausser Lilia weiss, dass mein Stock innen ausgehöhlt ist und das Pulver birgt. Ja, ich werde zur „Notbremse“ greifen müssen. Wie gut, dass ich noch während des Krieges das geheime Medikamentenlager bei Eschwege besuchte und zugegen sein konnte, als die wertvollen Arzneimittel wegen Bombengefahr in einen Bergstollen befördert wurden. Er war noch versiegelt, als ich ihn im Herbst 1945 während der Nacht mit Hilfe von Stephan, einem früheren Pharmaziestudenten, heimlich öffnete. Tausend Gramm Morphium und zweihundert Gramm Opium konnte ich mitnehmen. Stephan hat noch mehr mitgenommen. Ihn hat man gefasst, und er hat meinen Namen der amerikanischen Militärpolizei genannt, die dann später eine Suchaktion nach mir startete und über fünfhundert Gramm meines Morphiums bei dem Arzt in Hersfeld beschlagnahmen konnte. Verständigen sie aber die Franzosen, so kann ich jeden Tag mit dem Besuch der Polizei in Meersburg rechnen. Und sicherlich werden sie mich gleich verhaften, auch ohne das Versteck im Stock gefunden zu haben. Wie gut, dass Wolf auf Lilias Hinweis hin im Zimmer der Kinder unter dem Teppich eine Klapptüre angebracht hat, so dass ich im Notfall schnell verschwinden kann. Ja, heutzutage muss man an vieles denken. Es sind harte Zeiten. Wir werden alle gefordert, und wir müssen bestehen. Nie den Mut sinken lassen. Ja, ich will dem Kapitän ein Paar Bastschuhe schenken, damit seine Gemahlin mit dem zweiten Paar mehr Glück haben möge.