Impromptu am ersten Frühlingstag

Als am 21. März, dem ersten Tag des Frühlings also, das letzte ihrer zu betreuenden Kinder abgeholt ist, geht Maria zum Hausbriefkasten am Tor und findet in diesem einen dicken, an sie gerichteten Brief. Die Schrift kenne ich doch. So gross schreibt nur Molar. Soll ich ihn überhaupt öffnen? Ist es nicht besser, ich schicke ihn gleich zurück? Aber es fehlt der Absender. Ich hatte in den letzten Tagen befürchtet, er würde mich im Kindergarten anrufen oder gar selbst vor der Tür stehen. Und ich hatte mir auch schon alle möglichen “abblitzenden” Sätze ausgedacht, die ich ihm auf all sein Andringen hin erwidert haben könnte. Mir tut er ja so leid. Aber ich darf mich nicht erweichen lassen. Er ist verheiratet, und damit ist für mich unser Verhältnis beendet. Aber irgendwie freue ich mich doch, dass er an mich denkt. Jedoch er sollte es nicht tun. Es ist nicht gut, für beide von uns. Was er wohl schreibt, mein Herr Dichter und Lügenbaron? Ich mag ihn eigentlich sehr gerne. Er ist ein imponierender Mann. Er sieht sehr gut aus. Man fühlt sich in seiner Gegenwart wie auf eine bedeutungsvolle Bühne gehoben, wo wir als Hauptpersonen vor unsichtbaren Zuschauern ein ewig klassisches Drama aufzuführen haben. Ich hasse zwar alles Zur-Schau-gestellt-Werden. Aber solange es nur in der Vorstellung bleibt, will ich es mir liebend gefallen lassen. Hans Winfried ist ein wirklich interessanter Mann. Er steht voll im Leben, kämpft für Ideale. Er kann die Menschen begeistern. Und ist es nicht für eine junge Frau wie mich etwas Wundervolles, von einem grossartigen Mann begeistert zu werden? Trotzdem! Es muss Schluss zwischen uns sein! Ein für allemal! Ich wünschte, er hätte mir nicht geschrieben. Und doch bin ich neugierig, was wohl in dem Brief steht. Bin ich darum schon eine Sünderin? Nein, ich lese ihn nicht!

 

Und sich in die Kindergartenstube zurückbegebend, legt sie den Brief auf das Klavier, holt den Besen hervor und beginnt mit dem Aufräumen und Auslegen bei geöffneter Verandatür, durch welche die ersten Frühlingslüfte hineinwehen und sie wohl auch bei ihrem sie erwärmenden Arbeitseifer erfrischen mögen. Doch sie arbeitet unkonzentriert, entdeckt, dass sie an einem der Kindertische eines der Stühlchen zuviel, am anderen zuwenig hingestellt hat, oder sucht nun vergeblich nach dem Staublappen, der in der Tasche ihrer vorgebundenen Schürze steckt. Aber wir wollen uns nicht einmischen, sind wir doch “ganz Ohr” beim Erlauschen ihrer Gedanken, die um unseren schutzbefohlenen, nun schon auf Reisen befindlichen Gabenverteiler gehegt sind. Sie denkt auch stets an den dicken Brief. Und der Kampf in ihr wütet: Soll ich ihn lesen? Soll ich ihn nicht lesen? Ich möchte ihn sofort öffnen. Nein! Du zerreisst ihn!

 

Aber schliesslich fühlt sie sich diesen “Zerreissproben” nicht mehr gewachsen. Und sie entscheidet sich ... zugunsten unserer Bühne. Wir haben sie nun endgültig für unser Theater engagiert. Wird sie Karriere machen? Wie es auch kommen mag, unsere Vorstellungen werden ausgebucht sein.


Geliebte Maria!

 

Ich liege krank im Bett. Aber meine Gedanken gehen an Deiner Seite. Das Fieber erhöht meinen Herzschlag. Aber ich fühle nur das Pochen Deines Herzens in dem meinen. Deine Gedichte liegen verstreut auf meiner Bettdecke. Ich habe sie oft gelesen. Es sind für mich Türen zu Deiner Seele, die wiederum ein Tor zum ewigen Licht-und-Liebe-Reich Gottes ist. Ich habe die Not nachempfinden können, in der Du als die vom Himmel in die Finsternisse dieser Welt Abgesandte zu darben hast. Ich fühle mich Dir verbunden. Ich verstehe dein Alleinsein, Deine Leiden. Ich möchte Dir ein Freund sein, der Dich tröstet, wenn Du Kummer hast, der Dir Mut zuspricht, wenn Du zu verzagen geneigt bist, und der Dich beschützt, wenn Du gejagt wirst von den Schatten des Diesseits. Du brauchst einen Freund, der Dich ganz und gar versteht. Aber, so frage ich Dich, könnte irgendein Mensch Dich besser verstehen als ein Dichter, der wie Du aus der gleichen Quelle des Lichtes schöpft? Doch dieser Freund und Dichter benötigt Dich ebenso dringend, wie Du ihn benötigst. Denn er sieht in Dir nicht nur das irdische Ich - und wie herrlich ist es anzusehen! -, sondern er sieht in Dir auch dein höheres Ich, Deine schöne Seele, mit der er sich so verwandt fühlt. Ja, Gott muss Dich sehr geliebt haben, als er Dir zu dieser schönen Seele auch eine ihr entsprechende Gestalt aus Fleisch und Blut gab. In Deinem Inneren und *usseren waltet eine Harmonie, die jene göttliche Harmonie widerspiegelt, welche uns in ferner Zukunft einmal erwarten wird. Du verkörperst im wesentlichen das, was ich mit meinen Gedichten zu erfassen trachte. Indem wir Dichter die Geliebte bedichten, meinen wir zugleich auch jenes Unbekannte, bloss Erfühlte, was sich durch sie manifestiert. Du bist für mich eine Lichtgestalt, die aus den höchsten Ebenen herabgesandt wurde, ja, um demjenigen, der nach dem Licht sich sehnt und um dieses dichtend ringt, den göttlichen Schein des Himmels zu bringen, damit seine Dichterseele wieder erstarken kann, hoffen kann, lieben kann, damit sie, neu gekräftigt, auch von dem aufgefangenen Licht weitergeben kann an alle die Herzen, die nach Licht dürsten. Geliebte, verweigere mir Dein Licht nicht, damit meine Flamme nicht erstickt und dann auch nicht mehr denen Licht sein kann, die in den Finsternissen sich nach dem Licht sehnen. Du bist der Lichtbringer für meine Dichtung und zugleich die Liebe für den, der sein Dichteramt mit weitergebender Liebe verwaltet. Wir bedingen uns. Wir brauchen einander. Dein Alleinsein als eine Gejagte ist doch nur Ausdruck dessen, dass dein Licht von den vielen Blinden nicht gesehen wird und umsonst, sein Strahlen verströmend, scheint: Doch jetzt sollst Du in mir den gefunden haben, für welchen dein Licht bestimmt ist. Deine Liebe, dein Licht wird meiner Dichtung die Flügel des Himmels geben, mit denen so manches Herz mit nach oben gehoben werden kann. Vereint sind wir alles! Getrennt sind wir nur ein Bruchteil unserer eigentlichen Wirkungskraft.

 

Du sagst, wir versündigten uns - und wäre unser Verhältnis von noch so “lichter” Natur - gegen das Ehegebot des “Alten” Testaments. Ich frage mich aber: Kann Gott Missfallen daran finden, wenn ein Dichter, um die reinsten Ideale des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe verbreiten zu können, Ermutigung und Kraft sucht bei einem Lichtwesen, wie du es bist, die ebenfalls Gott in ihrer inneren Reinheit sucht? Kann es weiterhin Gottes Wille sein, zwei sich um die heiligsten Güter der Menschheit bemühende Seelen voneinander zu trennen, wenn deren Liebe und Gesinnung sich miteinander verbunden fühlen?

 

Nein! Und abermals: Nein!

 

Ich brauche Deine Liebe, um der Menschheit dienen zu können. Ich brauche Deine Liebe, um mich nicht von den Qualen der Alltäglichkeit niederringen zu lassen. Wenn ich Deine Liebe verliere, bin ich verloren. Wenn sich die Liebe dem Dichter entzieht, ist ihm zugleich die Dichtung entzogen. Wenn aber sich die Dichtung der Welt versagt, dann sind wir alle verloren. Denn die Dichtung repräsentiert die Hoffnung auf eine höhere Liebe. Fehlt aber diese, dann gibt es für die Menschheit kein Hoffen mehr. Das wäre dann der Ruin der menschlichen Seele. Jetzt frage ich Dich: Kann das Gottes Wille sein?

 

Wir beide stehen als Lichtverbreiter der höchsten Liebe in diesem Leben. Wir benötigen einander.

 

Wir dürfen nicht verzagen vor den Hindernissen, die überall in der Dunkelheit verstreut liegen. Unsere Liebe zueinander soll heilig und rein sein. Und von Sünde, meine Geliebte, sprich nie wieder, denn dann würdest du dich gegen das Licht der Liebe versündigen.

 

Gegen Ende des Monats werde ich wieder in Meersburg sein, wo ich, Liebste, von Dir einen Brief postlagernd vorzufinden hoffe. Auch wenn ich weit von Dir entfernt weilen sollte, mögest Du wissen, dass ich mit meinem Sinnen und Fühlen, meinem Denken und Dichten immer bei Dir bin. Verlass mich nicht! Ich brauche dich! Ich liebe Dich!

 

Der Deine


Als Maria, auf dem Klavierschemel sitzend, den Brief gelesen hat, dasskommen ihr auf einmal die Tränen, und ein sanftes Geflüster schwingt sich über ihre Lippen: “Auch ich liebe Dich.”

 

Und sie wendet sich auf ihrem drehbaren Hocker den Tasten des Klaviers zu und spielt, während ihre Tränen weiterhin nach unten rollen, Schuberts zweites Impromptu in As-Dur.