Ich wollte dir nicht wehe tun

Wahrfried: Lieber Onkel, was ist eine “Jüdin”?

 

Dörr: Wo hat er denn dieses Wort gehört? Solche Vokabeln gibt es doch nicht mehr in der nachkriegsdeutschen Sprache. Ja, meine Frau war eine Jüdin. Aber davon will ich nicht sprechen. Der Jude und die Jüdin sind Mann und Frau des jüdischen Volkes, dessen Religion auf das Alte Testament zurückgeht. Die Juden glauben, die Nachkommen von Josef und seinen Brüdern zu sein. Sie wurden vor nahezu zweitausend Jahren aus ihrem Land vertrieben. Es war jenes Land Israel oder Palästina, in welchem unser Heiland Jesus Christus, der selbst Jude war, gelebt und Wunder gewirkt hat.

 

Wahrfried: Warum hat man sie aus ihrer Heimat vertrieben?

 

Dörr: Das hat wohl viele Gründe und vor allem Hintergründe. Aber die Römer besetzten das Land Salomons und unterdrückten seine Bewohner. Somit wurde jenen die FreiIheit entzogen, und sie wurden praktisch zu Gefangenen in ihrem eigenen Land herabgewürdigt.

 

Wahrfried: Haben sie sich das gefallen lassen?

 

Dörr: Nein, sie haben sich, wie wohl jedes tapfere Volk, gegen diese Herrschaft gewehrt, sind aber von den Römern niedergekämpft worden und wären wohl als Volk ganz untergegangen, hätten sich nicht Abertausende durch Flucht retten können. Und somit ist dieses Volk in alle Winde verstreut worden.

 

Wahrfried: Andere Völker haben die Vertriebenen doch sicherlich bereitwilligst aufgenommen?

 

Dörr: Leider nicht oder doch nur in wenigen Fällen. Denn die Juden bildeten in jedem Land nur eine Religionsminderheit, dass sie nicht zu dem jeweils im Lande vorherrschenden Glauben übertraten, sondern weiterhin die Gesetze Moses befolgten. Und als später die Christen, die doch davon überzeugt waren, den einzig rechten Glauben zu besitzen, die Juden taufen wollten, wehrten jene sich, vor allem auch deswegen, weil man Christus mit Gott als Einheit zu verschmelzen dachte, während sie sich an das Gebot halten wollten: Ich bin der Herr, dein Gott! Du sollst keine anderen Götter haben neben Mir! Das war der Glaube Abrahams. Und von diesem wollten sie nicht lassen. Und dass sie wie die Christen ebenfalls behaupteten, den einzig richtigen Glauben zu haben, so wurde die Minderheit von der Mehrheit verachtet, verspottet, gedemütigt, verfolgt, misshandelt und gar allzuoft getötet.

 

Wahrfried: Aber Jesus sagte doch: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.” Ein Jude ist doch auch ein Nächster. Und Christus war doch auch Jude.

 

Dörr: Ja, wie es einmal so ist, bekennen sich zwar Christen zum Heiland, verstossen jedoch zu oft gegen dessen Gebote. Man sah in den Juden meistens nur die, welche Christus ans Kreuz geschlagen haben, merkte aber nicht, dass Christus in jedem der Verfolgten selbst anwesend war, der durch die Gedanken und Taten der Verfolger jeden Tag erneut ans Kreuz geschlagen wurde.

 

Wahrfried: Aber sagte nicht Jesus: “Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun?”

 

Dörr: Ja, Gott und Christus können vergeben. Uns Menschen fällt das Vergeben jedoch allzuschwer. Zu dem vielen, was wir auf Erden zu lernen haben, gehört es auch, dem anderen aus Liebe vergeben zu können. Das Vergebenkönnen ist eine unserer Aufgaben in dem grossen Aufgabenkomplex: Liebe deinen Nächsten, als ob du selbst jener andere wärest. Wenn wir diese schwere Lektion gelernt haben, dann brauchen wir nicht mehr in die Schule des Erdenlebens zu kommen, dann können wir unser irdisches Endexamen ablegen und uns in die höheren Welten begeben, um uns dort neuen Aufgaben und Prüfungen zu unterziehen. Unsere Welt ist so etwas wie eine Grundschule. Die Oberschulen und Universitäten befinden sich in höheren Regionen. Hier auf der Erde müssen wir erst die Voraussetzungen lernen, die uns überhaupt befähigen, die höheren Schulen zu besuchen.

 

Wahrfried: Dann sind Juden so eine Art wandelnder Rechenaufgaben der Nächstenliebe?

 

Dörr: Das hast du schön gesagt. Und so ungefähr könnte man die Dinge sehen. Alle Minderheiten, seien es Juden, Zigeuner, Mitglieder irgendwelcher Glaubenssekten, Verfolgte, Flüchtlinge, aber auch Kranke und körperlich und geistig Benachteiligte können als solche wandelnden Rechenaufgaben der Nächstenliebe angesehen werden.

 

Wahrfried: Was heisst “mitvergasen”, lieber Onkel?

 

Dörr: Um Gottes willen! Wo hat er wohl dieses furchtbare Wort aufgeschnappt? Wo hast du denn dieses Wort gehört?

 

Wahrfried: Gestern abend hat es meine Tante zu Tante Rosa gesagt. Ich habe es durch die Wand gehört.

 

Dörr: Ja, Frau Heitmann richtet, ohne es zu wissen, noch soviel Schaden an. Es wird noch lange dauern, bis sie lernen wird. Vielleicht muss sie erst auch einmal als Jude inkarnieren, um schneller lernen zu können. Was soll ich ihm nur darauf antworten? Darf ich ihm die Wahrheit sagen? Er ist doch noch ein Kind, das nächsten Monat erst zehn Jahre alt wird. Allerdings weiss er schon viel und hat auch schon vieles durchmachen müssen. Aber diese Wahrheit über den grossen Massenmord wäre für ihn vielleicht zu überwältigend. Soll ich ihm die Wahrheit sagen? Ja. Aber schonend. Er soll es wissen. Nun gut.

 

Wahrfried: Warum schweigst du so lange? Du wirst mir doch nichts verbergen wollen?

 

Dörr: Ich habe überlegt, was ich dir auf deine Frage antworten soll. Nun, wie du weisst, hat Hitler zwölf Jahre und drei Monate (das sind genau einundzwanzig mal sieben Monate) lang Deutschland beherrscht und schliesslich einen fünfeinhalbjährigen Krieg gegen nahezu die ganze Welt entfesselt. Er hatte einen unbändigen Hass auf alle Juden, und allzu viele seiner ihm Höriggewordenen liessen sich von diesem Hass anstecken, und die meisten der anderen taten nichts, um diesem Hass entgegenzutreten. Hitler liess in nahezu ganz Europa die Juden, wo immer man sie aufgreifen konnte, in Vernichtungslager bringen, wo sie entweder ebenfalls, wie wir jetzt, in Baracken leben mussten, jedoch wegen der schweren Arbeit und Unterernährung sehr schnell starben, oder aber -

und dies war die Regel bei körperlich schwachen Menschen, weiterhin bei Kindern und alten Leuten - sie wurden sofort in bunkerartige Räume geführt, die man hinter ihnen verriegelte. Danach liess man Giftgas einströmen, so dass alle in wenigen Minuten getötet waren. Auf diese Art wurden Millionen Menschen umgebracht.

 

Wahrfried: Das ist ja furchtbar! Was haben die denn nur gemacht, dass Hitler sie töten liess?

 

Dörr: Nichts weiter, als dass sie eben von ihm gehasst wurden.

 

Wahrfried: Du sagst, dass Kinder auch ...?

 

Dörr: Mein lieber Junge, komm in meine Arme. Ja, weine dich an meiner Brust aus. Ich wollte dir nicht wehe tun. Ach, ich hätte vielleicht doch nichts sagen sollen. Aber nun ist es heraus. Liebe Rachel! Wenn du nun gerade zugegen sein solltest, hilf ihm. Ich liebe ihn, wie ich mein eigenes Enkelkind geliebt hätte, ja, wie ich vielleicht einmal jeden Menschen lieben werden kann. Aber bis dahin habe ich noch einen langen Weg zu gehen.

 

Ist Rachel seine jüdische Frau?

 

Ja.

 

Ist es möglich, dass du sie mir vorstellst?

 

Ja, wir wollen sie uns vorstellen, indem wir im Anschluss an unsere jetzige Szene sie in unsere Vorstellung mit einbeziehen werden. Erlaubst du, dass ich für diese Vorstellung eine besondere “Sternstunde” aussuche?

 

Ich vertraue darauf, dass du die richtige Wahl triffst, wird es doch zum besten unseres Buches dienen.

 

Wahrfried: Du sagst, die deutschen haben die Juden vergast?

 

Dörr: Hitler hat sie dazu verleitet.

 

Wahrfried: Und die deutschen haben es gewusst und nichts dagegen unternommen?

 

Dörr: Nur ganz wenige wussten, was wirklich geschah. Es war Staatsgeheimnis. Jedem deutschen war wohl bekannt, dass Hitler die Juden in Arbeitslager steckte oder “umsiedelte”. Aber was wirklich geschah, wussten nur einige Zehntausend.

 

Wahrfried: Warum muss es solche Bösewichte* geben? Warum tun sie das? Wie kommt es, dass ein Volk sich von einem solchen Unhold verleiten lässt?

 

Und der blinde Alte versucht zu klären, zu trösten, darzulegen. Er spricht von der Toleranz, welche die Menschen noch am “anderen” zu üben haben, und davon, dass die zwölf Schreckensjahre der Hitlerdiktatur auch zugleich eine Prüfung für Millionen von Menschen waren, die wohl die meisten nicht bestanden haben dürften. “Was wir”, so schliesst er das von uns mitangehörte Gespräch ab, “das heisst die ganze Menschheit, aus dieser Veranschaulichung der Unmenschlichkeit gelernt haben sollten, ist das Wissen, nie wieder solche Staatslenker zu dulden, die den Hass, besonders gegen Minderheiten, in eines Landes Erde säen. Wenn die Menschheit diese Lektion wenigstens gelernt haben sollte, dann haben die Massenverbrechen doch auch eine zum Guten weiterhallende Wirkung gehabt. Aber wie viele Lektionen benötigt wohl die Menschheit noch, bevor die grundsätzlichen Lektionen der Nächstenliebe gelernt sein werden?

 

Wir beobachten noch, wie Wahrfried zurück in seine Baracke geht. Er hat beim Abendbrot keinen Hunger, will auch zu Lilias Beunruhigung sogleich zu Bett gehen. Und er wird drei Tage lang krank auf seiner Matratze liegen, ohne auch nur einen Bissen zu sich nehmen zu können. Er hat während dieser Zeit oft lange geweint und viel, viel nachgedacht und gebetet.