Ich werde ihm eine Ansichtskarte vom Kölner Dom schicken

Lilia ist in Eisenach mit Herrn Rensch in Verbindung getreten, der einen alten Lastwagen besitzt und schon seit drei Jahren mit diesem illegale Mondscheintransporte über die Grenze tätigt. Er lässt sich seine Dienste teuer entgelten, nimmt jedoch nur wenig Bargeld, aber um so lieber Wertgegenstände aller Art an, die er jeweils in dem erreichten westlichen Grenzdorf bei einem Freund hinterlegt und somit im kapitalistischen Deutschland, in das er, wenn seine nächtlichen Umzüge nicht mehr länger möglich sein werden, selbst zu „flüchten“ gedenkt und wo er sozusagen in Abwesenheit schon ein „gemachter“ Mann ist, obwohl er mit seiner Familie zur Zeit nur in einem baufälligen Schrebergartenhäuschen am Rande der Wartburgstadt wohnt. Die Volkspolizei weiss von seinem heimlichen Geschäft und lässt sich ihr Gewährenlassen mit grösseren Packungen amerikanischer Zigaretten und anderen Dingen bezahlen, die der Schwarzfahrer von „drüben“ mitbringt.

 

Am festgesetzten Nachmittag hält der Lastwagen vor der Lindenapotheke. Herr Rensch und ein nur zum Aufladen mitgebrachter Kollege steigen aus und begrüssen die sie willkommen heissende Lilia, die den Wagenbesitzer ihrem Schwiegervater vorstellt, der diesen in sein Zimmer bittet, wo schon zwei Kästen mit Silberbesteck bereitstehen, die als Preis für den Transport ausgehandelt worden sind. Wir wollen hier bemerken, dass sich die beiden Silberlöffel, von denen „er“ die Erbsensuppe und die Erdbeertorte gegessen hatte, im Gepäck der Tochter der ehemaligen Ortsgruppenfrauenschaftsleiterin befanden und nun als Reliquien bei ihr in der Meersburger Baracke aufgehoben werden. Herr Rensch überprüft die Qualität der Ware: „Sie wissen, dass ich mein Leben aufs Spiel setze, um Ihre Möbel nach ‘drüben’ zu befördern. Die russischen Soldaten an der Grenze sind unberechenbar. Oft lassen sie sich bestechen. Doch wenn sie betrunken sein sollten, muss mit allem gerechnet werden. Ich brauche vor allem noch etwa tausend Mark in bar als Schmiergelder für Transportgenehmigungen und dergleichen. Wieviel können Sie mir geben?“ Und der alte Apotheker öffnet seine Privatkassette, entnimmt ihr alle Geldscheine und zählt sie dem Transporteur vor: „Ich habe nur 560 Mark in bar. Das ist alles.“ „Nun gut“, so sagt der Mitzählende, „ich werde im Herbst wiederkommen und mir den Rest holen. Hoffentlich stirbt er nicht vorher.

 

Während die beiden Möbelmänner mit dem Aufladen beginnen und selbst Herr Becker und Lilia, beide sich freundlich zulächelnd, bei besonders schweren Stücken mit anfassen, trifft Herr Abel mit zwei Volkspolizisten ein, begrüsst die Thälmanngenossin mit Handschlag, beachtet jedoch den alten Apotheker in keinster Weise, spricht mit Herrn Rensch vertraulich in einer Zimmerecke und steckt ihm eine Transportgenehmigung nach „Eisenach“ zu, wie sie es miteinander telephonisch vereinbart hatten. Als er sich von Lilia verabschiedet, sagt er zu ihr: „Liebe Frau Genossin, ich hoffe, dass Sie heil über die Grenze kommen. Ich gebe Ihnen den Volkspolizisten Muffler mit, der Sie bis vor die Grenze begleiten und in einem Dorf auf die Rückkehr des Lastwagens warten wird. Im Grenzstreifen selbst kann ich Ihnen keine Sicherheit garantieren. Sie hätten sich eine Umzugserlaubnis vom sowjetischen Kommissar geben lassen müssen. Ich kann also nur hoffen, dass alles gutgeht und wünsche Ihnen bei Ihrer Mission im Westen eine erfolgreiche Arbeit. Bestimmt werden Sie noch mal zu uns zurückkehren. Leben Sie wohl.“

 

Und als sich Lilia und Wahrfried vom Grossvater Bröckelberger verabschieden, überreicht er ihr ein Album mit Briefmarken und bemerkt dazu: „Bitte, verteile sie an alle diejenigen meiner Enkelkinder, die dafür Interesse hegen.“ Und dem Zweitenkel gibt er ein kleines, mit einer Glasplatte bedecktes Kästchen, in welchem sich die drei Werdestufen des Pfauenauges als Raupe, Puppe und Schmetterling, sorgfältig angeheftet, befinden: „Nimm dies, lieber Wahrfried, als mein Abschiedsgeschenk für dich mit. Möge es dich immer daran gemahnen, dass wir uns nur verwandeln, nie aber wirklich sterben.“


Mehrere Stunden später, es ist nach Mitternacht, erreicht der abgedunkelte Lastwagen das letzte Dorf vor der Grenze. Der Schwarzfahrer Rensch sagt zu dem Volkspolizisten: „Jetzt müssen Sie aussteigen. Es sind noch vier Kilometer bis zum anderen Dorf ‘drüben’. In zwei bis drei Stunden sollte ich wieder hier sein. Dort hinter der Ecke gibt es ein Gasthaus, wo Sie sich einstweilen aufhalten können.“ „Ich bin nicht müde“, entgegnet der Angeredete. „Ich komme gerne noch ein Stück mit. Hoffentlich macht er mir keine Schwierigkeiten, wenn er erfährt, dass ich türmen will.

 

Wahrfried ist noch wach. Es ist zu aufregend und zu holprig, um schlafen zu können: Warum nennt Mami Herrn Rensch einen Schwarzfahrer? Weil er etwa ohne Licht fährt? Nun, vielleicht würde er sonst zu leicht von den russischen Soldaten entdeckt und angehalten werden. Er muss deshalb versuchen, „unbehelligt“ über die Grenze zu kommen. Immerhin scheint der Mond. Ob er wohl immer nur bei Mondschein fährt?

 

Alle schweigen. Alle sind gespannt. Der Fahrer gibt mit dem Finger ein Zeichen, womit er andeutet, dass sie bald an der Grenze angelangt sein werden. Plötzlich blitzt etwa dreissig Meter vor ihnen auf dem Feldweg eine Taschenlampe auf. “Verdammt! Russen! Nur ruhig bleiben. Lasst mich verhandeln.“ Und der Mondscheinfahrer bringt sein Gefährt zum Stehen und kurbelt das Fenster nach unten. Und Wahrfried sieht zwei Sowjetsoldaten in Militärmänteln. Die Maschinenpistolen halten sie im Anschlag. Was wird passieren? Erschiessen sie uns?


Aber die beiden Soldaten scheinen Herrn Rensch schon zu kennen, und dieser langt hinter seinen Sitz und zieht zwei Flaschen Wodka hervor, die er den Draussenstehenden in die Hände drückt. Die Fahrt kann weitergehen. „Wollen Sie jetzt nicht aussteigen, Genosse Muffler“, so fragt der Transporteur den sich jetzt mit dem Handrücken den Schweiss von der Stirne wischenden Volkspolizisten, der in seinem sächsischen Dialekt entgegnet: „Jetzt sind wir ja schon an der Grenze. dassfahre ich eben auch mal mit hinüber, um ein wenig ‘Westluft’ zu schnuppern.“ „Aber wenn die Amerikaner Sie ‘drüben’ schnappen, können Sie ‘eingelocht’ werden.“ „Dann werde ich ihnen sagen, dass ich getürmt bin, weil ich keine Menschen mehr nachts verhaften helfen wollte. Das werden sie schon verstehen.“ „Wenn Sie wirklich türmen“, so erwidert der Fahrer aufgebracht, dann können Ihre Kollegen mir später Ihre Flucht in die Schuhe schieben und mich wegen Fluchtbeihilfe uniformierter Beamter verhaften. Sie steigen jetzt aus und warten auf meine Rückkehr!“ „Komm, Rensch, fahr zu! Ich weiss, was ich will. Wenn du nicht willst, steig aus, dann fahre ich die ‘Kiste’ alleine über die Grenze!“

 

Während dieses Wortwechsels holt Muffler seine Pistole aus der Seitentasche hervor und hält sie jetzt hochgerichtet in der Hand. Als der Schwarzfahrer diese sieht, stösst er ein „Verdammter Schweinehund!“ hervor, fährt aber nichtsdestoweniger, wenn auch mit wütendem Gesicht, weiter.

 

Lilia hält mit beiden Armen Wahrfried umschlossen, der wegen Platzmangels in der Fahrerkabine auf ihrem Schoss Platz nehmen muss: Nur jetzt keinen Ärger so dicht vor der Grenze! Nachher, wenn wir „drüben“ sind, könnt ihr euch meinetwegen umbringen. Hätten die Wodkaflaschen nicht vorhin die beiden Soldaten umgestimmt, würde ich ihnen Nikolais Schreiben gezeigt haben. Ich werde, wenn alles gutgeht, morgen gleich nach Hersfeld fahren, um einen Transporteur ausfindig zu machen, der die Möbel nach Meersburg weiterbefördert. Mein Geld habe ich ja noch im Büstenhalter.

 

Doch dass ertönt plötzlich die Stimme des Fahrers: „Jetzt eben passieren wir die Grenze. ... Hurra! Wir haben es wieder einmal geschafft!“


Das Lastauto hält wenig später vor einer Scheune. Aus dem angrenzenden Bauernhaus kommt jemand mit der Taschenlampe hinzugelaufen: „Hans, bist du es?“ „Jawohl, Paul, ich bin’s!“ Das Scheunentor wird geöffnet, und der Lastwagen fährt hinein. Einige Petroleumlampen werden angezündet, und Wahrfried kann nun in jeder Ecke grössere Anhäufungen von Möbelstücken erkennen. Während er sich auf ein paar umherliegenden Strohballen unter einer Decke schlafen legt, werden die Bröckelberger Möbel ausgeladen.

 

Auch Volkspolizist Muffler hilft mit. Als die Arbeit beendet ist und Herr Rensch von seinem „Westfreund“ mehrere Grosspackungen amerikanischer Zigaretten erhalten und sie hinter dem Führersitz versteckt hat, jenem aber vorher das Silberbesteck zur Aufbewahrung anvertraute, verabschiedet er sich von Lilia, schlägt aber die dargebotene Hand des „Vopo“ Muffler aus, knurrt ihm nochmals ein ärgerliches „Du Schweinehund!“ entgegen und klettert auf seinen Fahrersitz zurück, während der Beschimpfte ihm jetzt freundlich lachend nachruft: „Nimm’s nicht so tragisch, du Schwarzseher! Grüsse mir den Abel und sag ihm, ich werde ihm eine Ansichtskarte vom Kölner Dom schicken, natürlich nebst schriftlicher Einladung zur Stadtbesichtigung! Auch dieses Schiesseisen kannst du ihm wieder mitbringen!“ Und er wirft seine Pistole auf die „schwarze“ Ladefläche des knatterpuffend davonfahrenden Grenzüberquerers.