Ich gebe Ihnen fünf Sekunden Zeit

Unser Gebetsdichter steht jetzt auf dem soeben vom Anleger sich langsam entfernenden Fährschiff, das den Namen „Mainau“ trägt. Neben ihm gleich am Geländer liegen drei vernähte Kartoffelsäcke und zwei mächtig aufgeblähte und mit Stricken umschlungene Einkaufstaschen. Jedem aufmerksamen Beobachter des Schiffes - und wir sind immer aufmerksam - würde der durch die Löcher in den Säcken hervorschimmernde Inhalt sofort augenfällig sein, aber noch sind vieler Blicke auf die Anlegestelle gerichtet, denn dort befindet sich, neben drei Kindern und einem Handwagen stehend, eine Frau in einem auffallend roten Mantel, welche die Adressatin zu sein scheint, der mit  vorgehaltenen trichterformbildenden Händen über das Wasser hinweg zugerufen wird: „Lilalein, sei nicht traurig! Ich komme ja bald mit volleren Taschen wieder!“ Dann lösen sich des Schreienden Hände vom Mund und recken sich nach oben, um dort winkende Bewegungen zu markieren, die ihr „Echo“ finden, denn vier geschwungene Taschentücher winken dem Abfahrenden als letzter Gruss zu. Aber den irdischen Betrachtern  ist es nicht wie uns vergönnt, ausser dem äusseren auch das innere Geschehen zu verfolgen und darüber hinaus darin zugleich bewegenden Einfluss nehmen zu können. „Nun, ich will mein Glück gleich hier auf dem Schiff versuchen“, so denkt er, der Rufer, - und wir versuchen, ihm noch ein wenig mehr einzuflössen - „denn warum soll ich eine ungenützte Chance verstreichen lassen? Habe ich doch bis nach Friedrichshafen über eine Stunde Zeit. Gehe ich also mit einer vollen  Tasche in den Aufenthaltsraum und versuche das Beste.“ Somit wirft er auch keinen Blick mehr auf die ihm so vertraute Silhouette der  Meersburger Unter- und Oberstadt mit dem alten, schon unter König Dagobert errichteten Schloss in ihrer Mitte und auf die dieses idyllische Städtchen - ein Juwel in deutschen Landen - umgebenden Weinberge, auf deren Höhe dem Wissenden und dem mit der Örtlichkeit Vertrauten das Häuschen der darin einst wohnenden Annette von Droste-Hülshoff, der berühmtesten deutschen Dichterin, sich gut zu erkennen gibt. Meersburg, du mittelalterliches Märchenstädtchen, du hobst einst einen Stefan Lochner aus der Taufe, welcher der Malkunst Wundertaten hinzufügte, während du einem anderen die letzte Ehre erwiesest. Jener war Anton Mesmer, der „Vorvater“ der Psychotherapie, der in Wien und Paris Grosses bewirkte und deswegen von Verständnislosen angefeindet und geschmäht, von erfolgreich Behandelten jedoch einzig gefeiert wurde. Ihm war es gelungen, zu dem noch unbekannten oder wenigstens seit vielen Jahrhunderten vergessenen Unterbewusstsein eine der vielen Geheimtüren wieder zu öffnen, weshalb sein Name zu Recht in den beiden Wörtern der englischen Sprache „mesmerism“ und „to mesmerize“ verewigt (das heisst hier: „zeitlich“ ein wenig ausgedehnt) wurde. Hätte man die Meersburger Bürger aber gefragt, wer letztere Berühmtheit denn eigentlich gewesen ist, so hätten die wenigsten, wenn überhaupt, zu sagen gewusst, dass jener ein weitgereister Arzt ferner Tage war. So ist das Kleinste sich oft seines Grössten nicht bewusst, wie auch der Verstand des Menschen über die Potentialität der eigenen Seele in Unwissenheit verharrt.

 

Und während sich Molar für eine der grossen, prallen Taschen, gefüllt mit zwanzig Paar Schuhen, entscheidet, beginnt es in seinem Kopf zu rumoren: Wieviel Geld kann ich hier auf dem Schiff wohl für ein Paar Bastschuhe verlangen, denn schliesslich sind diese Passagiere keine Touristen, die Geld für Souvenirartikel auszugeben von vornherein eingeplant haben? Lilia meinte, ich sollte mindestens zehn Mark verlangen, denn ihre Unkosten beliefen sich pro Paar auf sechs Mark fünfzig. Nun, wir werden einmal sehen. Nur frischen Mut, es wird schon gehen.

 

Und schon steht er vor dem Buffett und richtet sich mit dröhnender Stimme an die etwa dreissig anwesenden Personen. „Schönen guten Tag, verehrte Fahrgäste! Ich möchte Ihnen eine ganz grossartige Neuigkeit vorführen, etwas, das die deutschen hierzulande, von einigen Meersburgern vielleicht abgesehen, noch nie erblickt haben dürften. Wenn Sie also die Güte haben, Ihre geschätzte Aufmerksamkeit mir zuzuwenden, dann können Sie es sich vergönnen, an der grossen Überraschung teilzunehmen, die ich, praktisch als eine Art aus der Zeit geratener Weihnachtsmann, vor Ihnen auszubreiten gedenke.“ Bei diesen Worten öffnet er sein Taschenmesser, und „ruck, zuck“ springen die Bindfäden entzwei, und der Tascheninhalt sprengt den überhängenden Verschluss auf, so dass ersterer sich übereinanderpurzelnd auf dem Fussboden ausbreitet. Unser Dichter beziehungsweise Vordichter ergreift ein ineinander gestecktes Paar des bastigen Schuhvergnügens und hebt also an: „Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle Ihnen hiermit eine Neuigkeit vor, die dem kunstfertigen Genie entsprungen zu sein scheint. Haben wir nicht an so manchem kalten Wintertag eisige Füsse gehabt und uns, nachdem wir, vielleicht von draussen aus dem Schnee kommend, die nassen und durchfrorenen Füsse abgetrocknet haben, oft gewünscht: ‘Ach, wenn ich jetzt in so etwas richtig Warmes schlüpfen könnte, das zudem noch leicht und angenehm zu tragen wäre und das uns das grobe und klobige Schuh- und Stiefelwerk vergessen liesse?’ Nun, habe ich nicht recht, werter Herr?“ Und Molar wendet sich somit an einen ihn sehr interessiert beobachtenden Mann, dem sich nun alle Blicke der sich um die Bastschuhe gruppierenden Neugieriggewordenen entgegenwenden, so dass ihnen auch nicht des Angesprochenen Reaktionen - es ist ein bestätigendes Nicken - entgehen können. „Ja, sehen Sie“, so fährt unser sich nun bestärkt und dadurch in seinem Impetus gesteigert fühlender Dichter fort, „das muss jeder von uns zugeben, denn wer hätte noch keine kalten Füsse gehabt? Aus den groben Schuhen zu fahren und in diese weichen und anschmiegsamen, zugleich dauerhaften Bastschuhe zu schlüpfen kann nur mit der Verwandlung einer Raupe verglichen werden, die ihren schweren, lästigen Körper einpuppt, um sich in einen beflügelten Schmetterling zu verwandeln, der dann, das Eingezwängtsein verlassend, beschwingt durch den Sonnentag fliegt. Diese Schuhe sind also gefertigt, um sich darin besonders im Hause wohlzufühlen. Sie sind ausserordentlich stabil und deshalb lange haltbar. Es gibt solche, wie Sie, liebe Fahrgäste, bitte selbst sehen können“, und Molar verteilt einige Paare an die Umstehenden, „die für den modernen Herrn geformt sind, und andere mit feinerer Verschnürung und Verzierung, die sich dem Geschmack der Frau von heute angepasst haben. Nun, wie Sie sehen und fühlen können, sind diese Schuhe auch von innen gefüttert und mit einer elastischen Einlegesohle versehen, so dass es schwer wird, ihre Nützlichkeit und Vortrefflichkeit abzuleugnen. Diese Schuhe werden natürlich in besonderem Masse die Frau Gemahlin daheim erfreuen, denn Frauen, wie Sie, werte Herren, wissen, sind über angenehme Überraschungen, die aus dem Alltag an sie herangetragen werden, besonders entzückt und dankbar. Diese Schuhe sind eigentlich für den Verkauf in München bestimmt, denn die Münchner reissen sich praktisch darum und bezahlen gerne bis an die dreissig Mark für ein Paar. Meine Herren und Damen, dassSie wahrscheinlich selbst vom Bodensee sind und somit diese neuen Bodenseeschuhe auch bei sich zu Hause Ihren Gästen reklamemachenderweise im Sommer vorstellen werden - und Sie werden sehen, wie verzückt jene reagieren werden -, möchte ich Ihnen diese Schuhe heute ausnahmsweise für den halben Preis belassen.“ „Aber bester Herr“, so erschallt es jetzt von einem Schwarzbärtigen unter den Zuschauern, „das ist doch hinausgeworfenes Geld, denn diese „Dinger“ halten doch keine drei Tage, und schon fallen sie auseinander.“

 

Molar: Um Gottes willen! So ein Kritiker hat mir gerade noch gefehlt. Er wird mir das ganze Geschäft verderben, wo ich doch schon spüre, dass die meisten angebissen haben. Nur jetzt den Kopf nicht verlieren. Nein, ich lasse mich von ihm nicht übertrumpfen. Sie irren sich hierin gewaltig, werter Herr. Diese den Schuh umwindenden Bastzöpfe haben eine solche Stärke, dass ein Mann, selbst wie Sie, werter Herr, sie nicht  auseinanderzureissen vermag. Wollen wir doch einmal die Probe machen. Nehmen Sie diesen Schuh in die Hand. Ich gebe Ihnen jetzt für Ihre Zerstöraktionen fünf Sekunden Zeit!“ Und der muskulöse Vollbärtige, der nur langsam begreift, was er zu tun hat, erblickt den vor ihm stehenden Eingebungsreichen, der auf den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr sieht und schon bei „drei“ angekommen ist. In der überstürzten Not, nur noch zwei Sekunden für sein Zerstörungswerk zur Verfügung zu haben und nicht wissend, wo und wie er diesen Schuh richtig an zwei Enden packen soll, dreht er reissend an diesem herum, als ihm schon die „Fünf!“ des geschickten Verkäufers in den Ohren gellt, dessen vorgestreckte Hand ihm den Schuh entwindet und er von diesem vernimmt: „Ja, Sie sehen, meine verehrten Damen und Herren, dass selbst dieser starke Herr sich über die Haltbarkeit verschätzt hatte. Ich stehe an zu behaupten, dass diese Schuhe unter normalen Bedingungen mindestens über fünfzehn Winter hinweg getragen werden können. Somit, wie Sie zugeben müssen, sind die fünfzehn Mark eine gesunde und sich lohnende Investition.“

 

Der Barackenpoet verkauft auf nämlichem Schiff dreiundzwanzig Paar Bastschuhe, und der selbst von dem Kartenkontrolleur herbeigerufene Kapitän ersteht ebenfalls für seine alte Mutter und für seine „bessere Ehehälfte“, wie er die eigene Gattin zu titulieren beliebt, je ein Paar. Die Käufer sind höchst zufrieden, und unser Verkäufer ist es nicht minder. Doch wem sollte er danken, dass er doch des Autors oder vielmehr der Autoren seines Glücks nicht ansichtig oder „einsichtig“ ist, wenigstens nicht in seiner  j e t z i g e n  Lebenszeit.