Geisterstunde

Molar: Wie spät mag es wohl sein?
Ich will die Grazien
fragen.
Wie spät ist es, ihr Holden,
Die ihr mir lacht so golden?

 

Sappho: Es ist genau jetzt Mitternacht.

 

Molar: Ja, Geisterstunde, wie gedacht.

 

Sappho: Mich gruselt es, mich grauset sehr.

 

Molar: Hab keine Angst, ich steh’ dir bei.
Ich bin der
Dichter Allerlei,
Denn Drama, Lyrik, Narretei,
Sie stehen meiner Dichtkunst frei.
Doch saget mir, wer seid ihr zwei?
Ihr scheint mir so vertraut zu sein,
dass ich gar glaub’, wir hatten schon
Im Morgenrot ein Stelldichein.

 

Sappho: Du hatt’st dich wohl im Traum verirrt.
Dies ist’s, was dir den Sinn verwirrt.
Ich bin aus
Hellas, Lesbos’ Sappho,
Und steh’ dem Dichter
dichtend gegenüber,
Wie mir die Gunst der Stunde es beschied.

 

Molar: So wird mir hohe Ehr zuteil,
dassselbst von
Griechenlands Gestaden
Der Hehrsten eine mich begrüsst.
Hast du auch Lorbeerkranz mir mitgebracht,
Um mich zu schmücken in vernarrter Nacht?

 

Erato: Uns steht’s nicht zu, den Dreispitz dir
Mit Dichterlorbeer auszutauschen,
Solange du noch deine Rolle spielst.
Hast du jedoch erst einmal dich verwandelt
Und bist
geworden, was du warst,
So wollen wir uns nicht entwinden,
Mit
Lorbeer oder Diadem
Die Stirne dir zu binden.

 

Molar: Wer bist du Garst’ge nur,
Die mir den Preis verweigert?

 

Erato: Ich bin, die dich begeistet,
So oft dir Liebesdienst geleistet,
Die dir in mancher Stunde
Worte gab dem Munde,
Dich inspirierte in Gedanken,
Dir half in mannigfachem Wanken.
Erato heiss ich, Seherin bin ich.
Ich webe im Geheimen
Und lebe im All-Einen,
Kann in die
Zukunft sehen,
Auch in
Vergangenheiten spähen,
Weiss dir von dir zu künden,
Ob in der Hand dir stehen
Liebestaten oder Sünden.

 

Molar: Sie spricht gar keck.
Mit welchem Zweck, nun ja,
es wird sich finden.
So lies mir doch aus meiner Hand,
So dir die Art des Lesens ist bekannt.
Sag an, wie viele Kinder nenn ich mein?

 

Erato: Von erster Frau sind’s viere gar,
Die zweite nur ein Kind
gebar.
Zusammen mit dem Enkelkind
Es ganze sechse sind.
Jedoch, dass du der Siebenzahl verschrieben,
Was Glück dir bringt und heftig Lieben,
So hast du einst
in Niederlanden
Ein Kind gezeugt, ist noch vorhanden.

 

Molar: Was du mir sagst, erstaunt mich gar,
Und scheint mir bis auf letzt’res wahr.
Sollt’ wirklich denn die Hollandmaid,
Mit der ich
Liebesnächte pflegte ... ?
Woher willst mehr du kennen,
Als was mein Wissen weiss?

 

Erato: Ich kann dir viel noch nennen,
Doch spät wird dir Beweis.
Von deiner Kinder Siebenzahl
Fünf besteh’n, doch zwei vergeh’n.
Damit die Anzahl sich erneut vergülde,
Musst
zwei du zeugen,
Doch nicht mit Hilde.

 

Molar: Ist sie es gar, die diesen Schabernack beschworen?

 

Erato: Nein, nein, fürwahr
Sie hat uns nie geseh’n,
Wenn wir sie wohl auch gern
für Lesbos selbst erkoren.

 

Molar: Es ist mir doch höchst sonderbar,
Was meine Hand dir deutet.
Nun bitt’ ich dich ganz flehentlich,
Zu sagen, wer die Meine,
Der ich in Lieb’ mich eine.

 

Erato: Sie kommt aus vorgem Leben,
Wo sie
dir war zur Frau gegeben.
Sie wird dich wiederkennen,
Wird dich beim Namen nennen.
Und heute gar zu dieser Nacht,
Noch vor der ersten Märzenssonne Strahlen
Soll sie dir nah’n, soll vor dir steh’n
Und soll auch deinen Kopf verdreh’n.

 

Molar: 0 könnt’ ich euch nur trauen,
Auf euer Wesen bauen.
Wie würd’ es mich entzücken
Und meinen Sinn entrücken,
Wenn ich noch diesen Morgen
In Liebe werd’ geborgen.
Doch sagt mir gar noch, wer ich bin,
Und was sich mir gestaltet,
Damit ich seh’, mit welchem Sinn
Ihr Wissens Weisheit waltet.

 

Erato: Schön Sappho, mein Liebschwesterlein,
Versteh dich auch auf Männerhände.
Drum weise ihn wohl auf sein “Sein”,
Auf dass er gar den Glauben fände.

 

Sappho: Wie ich aus dieser Linie seh’,
So hast du viel zu leiden.
Die Freuden überdauern Weh
Zu allen Lebenszeiten.
Doch hast du immer frischen Mut
Und tust auch allen Menschen gut.
Als Winfried bist du uns bekannt,
Doch hast du Molar dich genannt.
Und dieses Werk gebund’ner Reimerei,
Dem Drucke fern,
dem Drucke nah,
Sagt aus, dass
alles noch lebendig sei,
Was immer auch geschah.
Denn
alles ist Lebend’ges Sein,
Und
Wandel ist nur Schein.

 

Molar: Potzblitz und Sapperlot!
Münchhausen ist perplex.
Dann seid ihr wohl am Ende gar
Medusa und die Hex’?
Was könnt ihr beiden wohl
Von meinem Werk und Wirken sagen
Von nun an bis in ew’gen Tagen?

 

Erato: Der Zukunft Rätsel sollen Rätsel bleiben,
Bis du an ihre Schwelle trittst.
Doch will ich dir dein Wissen weiten,
Was einmal du, nachdem du littst,
Für Erd und Stern bedeuten wirst.
Dein Name soll gleich einem Dichterfürst
I
m weiten Rund der Sternenwelt
B
eachtet und bewundert sein
Wie etwas, das man liebend hält
Und schliesst im Herzen ein.

 

Sappho: Dein Schicksal ist uns wohl vertraut,
Denn es
steht schon geschrieben.
Doch les’ ich gern und lese viel,
Und viel ist mir geblieben.
Ich werd’ auch weiterhin mich müh’n,
Um lesend dir gar zuzuseh’n.
Ist’s mir doch eine Freude,
Kein Weilchen ich vergeude.

 

Molar: Du Sappho ziehst mich mächtig an,
Dir bin ich ganz verschrieben.
Lass dich im Tanzschritt wiegen.

 

Erato: Nun geht nur, geht, im Tanze schwebt!
“Hab ich doch meine Freude dran.”
Die Leserin trifft ihren Held,
Er ist ihr ganz erbötig,
Sie ist’s, die ihm so ganz gefällt,
Sie hat ihn gar nicht nötig.

 

Molar: Du bist so schön, so zauberhaft,
dass ich
mit meiner Dichterkraft,
Dich gerne ganz
umarmen möge.

 

Sappho: Womit ich dich in deiner Hoffnung tröge.
Ich
liebe dich auf and’re Art.
Denn was sich mit dem Meinen paart,
Hat von dem Wesen deiner Mannsnatur
Nur in Verklärung eine Spur
.

 

Erato: Wo bleibst du denn, mein Augenstern?
Ergeht ihr euch in dicht’rischen Tiraden?
Kannst du, o vielgeliebte Sappho mein,
Ein Stündchen nicht mir Treue wahren?

 

Sappho: Ach, lass das schmollende Gebaren.
Der Dichter will mich allzusehr
An seine Brust mit Stürmen drücken.
Doch biet’ ich ihm nur Gegenwehr.
Zwar kann ich mich
an dessen Herz,
Doch
nicht an seinem Mund beglücken.

 

Erato: So geht es allen,
Die vom reinen Geist
Der Liebe hochgehoben.
Nun komm, mein Herz, wir wollen geh’n.
Es ist der Geisterstunde Ende.
Doch wollen wir aus unsichtbaren Höh’n
Mit uns’res Geistes Augen sehn,
Wie sich sein Schicksal wende.

 

Sappho: Entsteigen wir dem Haus der Kunst
Und überlassen dich des
Waltens Gunst.

Molar: Warum wollt ihr schon schwinden
Zur allerfrühsten Zeit,
Wo wir uns
leibhaft finden
Zum schönsten
Zeitvertreib.
Müsst ihr nun wahrhaft zieh’n,
Aus unsrer Mitte flieh’n,
So hinterlasst mir doch
Adresse, Telephon und Namen,
Damit ich mit euch weiterhin
In dichterisch Kontakte bin.

 

Sappho: Was kann dir dran gelegen sein,
Wie wir uns wirklich nennen?
Ziehst du ins
Geisterreiche ein,
Sollst du
uns wahr erkennen.
Wir leben in der Spiegelei
Gleich hier um diese Ecken
Und können uns, wie immer, frei
Bewegen und verstecken.

 

Erato: Sind wir doch in uns’rer Sphäre
Losgelöst von aller Schwere,
Sind der Zeit entronnen,
Haben Raum gewonnen,
Haben in der Leere
Platz für alle Heere.

 

Sappho: Willst du uns gar noch telephonisch wählen,
Brauchst du auch nur bis drei zu zählen.
Gleich sind wir dassan Ort und Stelle
Als Geister zwar, doch nicht in Tageshelle.

 

Sappho und Erato: Wir sind mit dir auf deiner Jahresbahn
U
nd sehen deinen Höhenflug von oben an.
L
eb wohl, gefalteter Vordichtermann.
Molar: Wie schwer ist es zu fassen:
Erst von den Geistern eingekreist,
Dann plötzlich ganz allein gelassen.