Ein Missverständliches Stelldichein

Heute haben wir jenen Samstag, der unter Ameisengekrabbel und Schmetterlingsflügelgekitzel herbeigesehnt worden war. Unser sonst immer alles in letzter Minute besorgender oder gar - wenn auch selten - zu spät kommender Dichter steht diesmal, mit einem Bouquet duftender Gewächshausnelken versehen, schon vorzeitig vor dem verschlossenen Café Monopterus und harret heftig schlagenden Herzens auf seine “japanische Aphrodite”. Und auf dem Bürgersteig auf und ab gehend, versucht er, dem mächtigen Pochen in seinem Inneren Einhalt zu gebieten: Beruhige dich! Sei nicht so aufgeregt. Versuche nicht, dir schon das Zukünftige auszumalen, sonst kommt es anders, als du denkst. Du weisst es ja aus Erfahrung. Denke lieber an die Venezianische Nacht zurück. Und bei dem Gedanken an ihren ersten Kuss durchströmt ihn wieder jenes Durchglühen von Kopf bis Fuss, so dass das Herz seine Schlagzahl erhöht. Nein, ich darf auch daran nicht denken, sonst beginne ich vor Aufregung zu zittern. Ja (seine Hände betrachtend), ich sehe deutlich, wie meine Fingerspitzen zittern. Denk an etwas Alltägliches. Lilia? Nein, nur nicht an so etwas Störendes und Desillusionierendes denken. Ja, was wird meine Geliebte sagen, wenn ich ihr offenbare, dass ich verheiratet bin und gar vier Kinder habe? Wird sie mir nicht Vorwürfe machen, dass ich unerlaubt einem Mädchen den Hof mache, wo doch schon längst mein Haus und Hof bestellt sind? Ich sollte sagen: “Baracke”. In diesen Tagen muss Lilia wieder nach Meersburg zurückkommen, und sicherlich wird sie mich sogleich telegraphisch zurückbeordern. Hoffentlich hat sie einiges von Gerdas Möbeln, jener Hochzeitsmitgift, retten können. . .. Es ist schon zehn nach drei. Nun ja, bei Verabredungen mit Damen muss man immer einige Minuten hinzurechnen. Sie lassen gerne aus Prestige oder einfach aus dem Gefühl heraus, nicht aufdringlich erscheinen zu wollen und ihr wahres Verlangen nach dem Wiedersehen zu verbergen, ihre zur verabredeten Zeit sich eingefunden habenden Partner warten.

 

Aber auf die einfachste Erklärung, dass eben das zarte Geschlecht bis auf die allerletzte Minute sich auch noch der sie erwartenden “Herrlichkeit” wegen schön zu machen gedenkt, kommt unser ameisenbekrabbelter Sturmbestürmer nicht. Und der Nelkenstraussträger schaut wiederholt auf die Uhr. Es ist zwanzig Minuten nach drei.


Lieber Leser, wir wollen diesmal nur einen kleinen Sprung von nur wenigen hundert Schritten machen, womit wir uns mitten in den Englischen Garten, eines der Juwele der früher “leuchtenden” Bajuwarenmetropole, hineinbegeben. Hier siehst du ein mit neoklassizistischen Säulen bestücktes Rondell auf einem Hügel stehen. Und dieser Ausflugsort für kundige Liebespaare heisst “Monopterus”. Leider ist unser entzopfter Mondrückkehrer nicht ortskundig genug, um das kaum zu verfehlende irdische Stelldichein in seine aventures d’amour schon eingereiht haben zu können.

 

Ich sehe Maria zwischen den Säulen stehen. Besuchen wir sie schnell, damit ihre Gedanken uns nicht entfliehen.

 

Langsam, langsam. Uns kann nichts entfliehen, können wir doch jede uns vorstellbare Zeit - und liegt sie auch noch so weit zurück - uns wieder vorstellig werden lassen. Darum wollen wir uns, obwohl des ungeduldigen Molars Uhrzeiger schon auf halb vier weisen, in die verflossene halbe Stunde zurückversetzen und uns in die Rundung dieses Imitationspavillons stellen, um unter dem uns in nach-griechischer Manier übergeordneten Gekuppel auf die schwarzhaarige Aphrodite zu warten.

 

Da! Sie kommt. Auf die angesetzte Stunde genau. Denn ich höre die Turmuhren schlagen.

 

Maria: Ich sehe ihn noch gar nicht zwischen den Säulen. Vielleicht blickt er in die andere Richtung. Ob er mich noch mag, jetzt, wo wir doch nicht mehr “verzaubert” sind und ich mich wieder in meiner Alltäglichkeit befinde? Ich hoffe, dass mein Haar nicht vom Wind zerzaust ist. Vielleicht habe ich zuviel vom Lippenstift aufgetragen. So, jetzt noch ein paar Schritte, und ich bin im Monopterus. ... Nanu? Er ist ja noch gar nicht da! Vielleicht kommt er sogleich. Er ist ja nicht von hier, wie er mir sagte. Er kommt vom “alpengespiegelten” Bodensee. Ja, er ist sicherlich ein einfallsreicher und höchst aufregender Mann. Dichter ist er. Wie alt wird er wohl sein? Vielleicht Ende dreissig. Eigentlich ein wenig zu alt für mich. Aber dafür macht seine Originalität, seine Leidenschaft, ja seine ganze Ausstrahlung alles wieder wett. Nun, ich sehe ihn immer noch nicht. Ich bin so aufgeregt. Wie wird er wohl in normalen Kleidern aussehen? Als Münchhausen hätte er alle Frauen verführen können. Vielleicht sogar mich? Nein, nein. Ich bin keine von den ganz Schnellen. Ich muss zuerst ganz heftig verliebt sein. Aber bin ich jetzt nicht schon verliebt? Nein. Höchstens “verknallt”. Aber ich musste auch gestern im Kindergarten wieder unentwegt an ihn denken. Jetzt ist es schon Viertel nach drei. Vielleicht findet er sich hier im Englischen Garten nicht gleich zurecht. Nur Geduld. Er wird schon kommen. dass er mich wiedersehen wollte, dessen bin ich mir gewiss. Sonst hätte ich ihm doch auch nicht meinen Ring überlassen. Wie bin ich eigentlich auf die Idee gekommen, mein kostbares Erbstück einem fremden Mann anzuvertrauen? Meine Grossmutter, wenn sie es wüsste (sie weiss es bereits), würde “schön” verärgert sein. Sie ist ja damals wie durch ein Wunder allem entkommen, während ihr Mann aus “doppelten” Gründen noch kurz vor dem Krieg in Polen vom Mob ermordet wurde. Sie lebte bis zum Schluss noch bei meiner Tante (Schwester des Vaters) in Neapel. Ja, im Sommer fahre ich wieder dorthin. Vielleicht sehe ich auch Manfred wieder. Er machte mir ja letzten Sommer gleich nach dem ersten Kuss einen Heiratsantrag. Diese stürmische Draufgängerart hat er bestimmt von seinem italienischen Vater geerbt. Wo bleibt nur der “kugelflinke” Baron von Münchhausen? Er ist doch nicht etwa auf den Mond geklettert und hat, vor der Tiefe zurückschreckend, Angst, am Zopf wieder hinunterzugleiten? Nur keine Scherze. ... Ich mache mir jetzt doch Sorgen. Es muss schon bald halb vier sein. Ob ihm etwas zugestossen ist? Das wäre ja schrecklich! Wie sollten wir uns dann in der grossen Stadt wiederfinden können? Warum habe ich ihm nicht auf sein Verlangen hin meine Adresse gegeben? Ich bin ein Schaf. Jetzt bin ich den Ring, der doch mindestens fünfhundert Mark wert ist, auch los. Ob er ... ? Nein, das kann ich nicht glauben. Er, ein Dieb? Nein! So einen hätte ich doch sogleich erkannt und mich nicht mit ihm eingelassen. Aber er stellte doch den Lügenbaron dar? Also war er doch eine personifizierte Lüge? Sollte ich mich etwa derart haben täuschen lassen? War ich denn vielleicht zu sehr vom Wein berauscht? Vielleicht war alles nur ein Traum? Aber ich habe doch meinen Ring abgezogen und diesen ihm, dem kühnen Reimeschmieder, gegeben? Was soll ich meiner Mutter sagen, wenn sie mich wiederholt nach meinem Erbstück fragen sollte?

 

Und die Entzauberte und Entringte geht unruhig im Rund der Säulenhalle auf und ab, jedoch vergeblich hinunter auf die durch das noch nicht sich hervorwagende knospende Grün an Geäst und Gebüsch sich windenden Wege spähend. Und als die erste Turmuhr erst viermal leise und daraufhin viermal laut geschlagen hat, verlässt sie das enttäuschende Stelldichein, und eine *auf dem Wege dorthin befindliche ältere Dame entdeckt in den Augen der an ihr vorbeischreitenden jungen Frau feuchten Glanz.

 

Kannst du ihre Schritte nicht so lenken, dass sie an jenem Café vorbeikommt, wo unser von verzweifelter Liebesglut Erfasster in Ungeduld wartet?

 

Ich könnte es schon. Jedoch will ich nicht gegen die Gesetze verstossen, wie sie seinem Leben vorgeschrieben sind, denn die Sterne stehen heute nun einmal für unseren quadrupelten Konjunktionsritter ungünstig. Aber gesellen wir uns wieder zu ihm und lauschen, einen zeitlichen Rück-Sprung vornehmend, seinen Nach-halb-vier-Uhr-Gedanken.

 

Molar: Vielleicht ist ihr etwas zugestossen? Oder sie hat die Strassenbahn verpasst? Kann ich mich etwa in der Zeit vertan haben? Nein. Sie sagte drei. Denn ich merkte es mir daran, dass ich meinen Dreispitz in der Hand hielt und seine Ecken mit den Fingern überstrich. Konnte sie einen anderen Samstag gemeint haben? Oder meinte sie gar Sonntag und hat sich nur versprochen? Jetzt geht es schon auf dreiviertel vier zu. Sei noch nicht enttäuscht. Habe Geduld. Hoffe. Du wirst sie bestimmt wiedersehen. Was weiss ich eigentlich von ihr?

 

Ich kenne nur ihren Vornamen und weiss, dass sie irgendwo als Kindergärtnerin arbeitet. Ich habe keine Ahnung, wo sie wohnt oder wo ihr Kindergarten sein soll. Wie kann ich sie denn wiederfinden? Vielleicht hat sie einen Unfall gehabt und liegt mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus und denkt an mich, ihren - wie sagte sie gleich? -, ja richtig, ihren Mono. Auch ich habe das Gefühl, als kenne ich sie schon von Ewigkeiten her. Das darf nicht sein, dass wir uns nie wieder treffen sollten. Ach, ich habe Angst, dass ihr etwas passiert sein könnte. Geliebte Maria! ... Ja, hier in meiner Manteltasche halte ich ihren Goldring umfasst. Ein Erbstück mit einem Brillanten. Wie sollte ich ihr diesen Ring denn wiedergeben können? Ich kann doch nicht zur Zeitung gehen und eine Annonce aufgeben mit folgendem Text: Dichter möchte seiner schwarzhaarigen Aphrodite ihren brillantbesetzten Goldring zurückgeben. Dann könnten sich gleich Dutzende als ringverlustig melden. Das geht nicht. Jetzt schlägt es schon vier. Das Monopterus-Café ist ja auch geschlossen, sonst hätte sie doch dort anrufen können, wenn ihr wirklich etwas passiert wäre. Was sagte sie noch im japanischen Saal am frühen Kehrausmorgen?

 

Nimm diesen Ring von meiner Hand.
Sei er dir treu mein Unterpfand,
Bis wir uns wiedersehen
Und im Monopterus stehen.

 

Sie sagte “im” Monopterus “stehen”. Aber im Café sitzt man doch für gewöhnlich? Kann sie etwas anderes gemeint haben? Vielleicht sollte ich einmal die neben mir erscheinenden zwei Herren fragen: “Entschuldigen Sie, mit Verlaub! Könnten Sie mir wohl freundlicherweise bei der Lösung eines Rätsels behilflich sein?”

 

Erster Herr: Ja natürlich, werter Herr! Ist es ein Liebesrätsel, wenn ich mir die Freiheit zu fragen herausnehmen darf?

 

Molar: Hören Sie sich bitte dieses Gereimte an:

Bis wir uns wiedersehen
Und im Monopterus stehen?

 

Erster Herr: Ja, was ist denn daran so unverständlich? Das Wiedersehen findet dort drüben auf jenem Hügel im Englischen Garten statt.

 

Molar: Wie? Was? Ist nicht dieses Café das Monopterus?

 

Zweiter Herr: Nein. Dieses Café hat sich bloss den Namen von nämlichem Pavillon ausgeliehen.

 

Molar: Danke! Danke! Ich muss eilen!


Und der Kugellose, aber Nelkenumklammernde stürmt davon. Der Ring fällt ihm aus der Tasche, und wir bedecken ihn vorsichtshalber mit einem “nützlichen” Papierschnitzel, den wir erst später wieder wegzupusten gedenken.

Kein Dreispitz mehr krönt, Glück verheissend, seinen Kopf. Verloren gar sind Kugel, Degen, Ring und Zopf.

Und unser sich hetzender, von der Liebe Gehetzter kommt keuchend in das Säulenrondell, erblickt jedoch keine Geliebte, sondern nur eine ältere Dame, die er, der Tief-Schnaufende, fast atemlos hervorstammelnd fragt: “Haben Sie zufällig ... ?!!

 

Ältere Dame: ... eine schwarzhaarige junge Dame gesehen? Ja, das habe ich. Sie ist vor einer viertel Stunde tränenden Auges von hier davongegangen.

 

Molar: In welche Richtung?

 

Ältere Dame: Den Frauentürmen zu.

 

Molar: Danke!

 

Und wieder hastet der langfüssige Nelkenkavalier mit hurtigen Schritten auf den sanft gewundenen Wegen dahin. Auch an der Strassenbahnhaltestelle erblickt er keine Zauberin mit schwarzen Haaren.

 

Molar: Vielleicht existiert sie gar nicht? Sie ist nur ein Phantom gewesen? Aber sie gab mir doch diesen Ring? Wo ist er nur gleich? Ich hielt ihn doch noch in der Manteltasche. 0 weh! Jetzt habe ich ihn auch noch verloren. Ich werde den ganzen vergeblich abgerannten Weg zurückzugehen haben. Ich muss ihn finden!

 

Und als er nach über zweistündigem Suchen am falschen Stelldichein nelkenlos wieder ankommt, hebt auch “zufällig ein Lüftchen jenes ringbedeckende Papier von jener juwelgeschmückten, goldenen und fingerhaftenden Umrundung. Und obwohl sich doch noch zu später Stunde ein hoffnungsvolles Lächeln auf des glücklichen Finders Gesicht abzeichnet und er, der Geprüfte, dem Himmel dankbar ist, scheint unser Wundermann sich seiner ihm ergebenen und papiergebrauchenden Schatzbewahrer nicht bewusst zu werden.