Die Liebe ist die grösste Macht

Um Punkt zehn Uhr (deutsche sind immer exakt) klopft es an Molars Tür in der Pension “Luna”. Es ist die Wirtin: Nanu? Er rührt sich gar nicht. Der Herr Doktor wird wohl noch fest schlafen. Heute morgen um Viertel vor sieben ist er vom Faschingsball zurückgekommen. Er sah ja so eigenartig “aufgekratzt” (lebhaft) aus. Und das nach einer zertanzten Nacht! Was mag ihm wohl begegnet sein? Aber er trug mir ja heute morgen auf, ihn um zehn zu wecken, denn er habe, wie er sagte, so viel zu erledigen. Sie pocht wiederholt: “Herr Doktor! Aufstehen! Es ist zehn Uhr!”

 

Molar: Haut dassnicht ein Dragoner auf seine Trommel? Jetzt ruft er “Aufstehen!” Warum? Ich stehe doch schon fertig zur Abreise auf den Beinen. Ich kann gleich in diese Kutsche steigen. Wo will ich eigentlich heute noch hinfahren? Ja, nach Russland. Jetzt ruft er wieder “Aufstehen!” und “Zehn Uhr!” und jetzt gar “Herr Doktor!”. Aber ich bin doch Baron von Münchhausen und kein Doktor. Herr Doktor? Herr Doktor? Die Stimme kommt mir doch so bekannt vor? Natürlich, meine Wirtin. Ach ja, es ist zehn. Ich muss aufstehen. Ja, liebe Frau Huber! Herzlichen Dank!

 

Wirtin: Ich stelle Ihnen den Kaffee vor die Türe!

 

Molar: Schönen Dank! Das ist sehr nett von Ihnen! Ja, ich muss sogleich aus dem Bett. Ich muss vor Mittag noch bei Pfaff vorbeisprechen. Danach will ich meine Gedichtdrucke bei Berghofer abholen, und dann werde ich mein Glück als verkaufender Unternehmerdichter wagen. Ich bin ja so gespannt.


Unser Mondbesteiger erblickt auf dem Boden sein wie eine Schlangenhaut abgestreiftes Dragonerkostüm nebst Dreispitz und weisser Perücke mit dem langen Zopf. Was für eine grossartige Zaubernacht war das! Und dann entdeckte ich meine Zauberin. Wie sie mich ansah und dabei sagte, sie kenne mich schon lange, war ich wie vom Blitz getroffen.

 

Und der Gedanke an sie durchströmt nicht nur seinen Kopf, nein, seinen ganzen Körper. Erst beginnt es an seinem Rücken hinunter wie bei einem plötzlichen Temperaturumschwung zu kribbeln, und schliesslich, von den Beinen wieder hochkommend, lässt sich dieses Wonnegeschauer im Magen nieder, wo es sich warm und angenehm “kitzelnd” anfühlt. Maria, so heisst sie. Wie alt mag sie wohl sein? Vielleicht so Mitte zwanzig? Sie hatte sich als Zauberin verkleidet, eigentlich so wie eine zaubernde Zigeunerin. Ein rotes Kopftuch verdeckte viel von der Schönheit ihrer Haarpracht. Später habe ich es ihr abgenommen und ihr von einem herüberhängenden Ziergeränk eine japanische Blume aus Papier in die Haare gesteckt. dasssagte sie mir, jetzt habe Münchhausen sie verzaubert und sie mit seinem Kugelflitzer nach Japan versetzt. Und dann gab ich ihr den ersten Kuss.

 

Und neue Liebeswallungen durchströmen seinen Körper, und das Kitzeln in der Bauchgegend verstärkt sich. Zuerst wollte sie mir nur ihre Wangen anbieten. Aber dann ... Wir sprachen den ganzen Abend in Versen und Reimen. Woher sie nur solche Fähigkeiten haben kann? Ich sagte ihr, dass sie eine Dichterin sein müsse, denn selbst die Droste könnte sich heute abend kaum mit ihr vergleichen. Und sie erwiderte: Er pflegt wohl stets und gern zu übertreiben Im raschen Rausche seiner kühnen Reimerei’n. Jedoch lass ich mich von der Sitte leiten, Der Sitte, demutsvoll vor Grösseren zu sein.

 

Wie ihr nur alle diese Worte eingefallen sein mögen? Einfach unfassbar! Und wie schön sie ist! Ja, meine Gerdasswar auch unvergleichlich schön. Aber Maria! Sie ist eine geheimnisvolle Sphinx, eine Kleopatra. Ja, ich könnte mir vorstellen, Aphrodite müsste so wie sie aussehen. Sie ist belesen. Das merkte ich wohl. Den “Faust” flocht sie im Gereimten mehrfach ein. Als ich sie fragte, was ihr täglich Handwerk sei, dasssagte sie: “Das ist jetzt doch ganz einerlei. Wir haben nun nach Japan uns begeben und leben hier ein anderes Leben.” Ja, das war in jenem Saal mit dem japanischen Gehänge. Und an den Wänden befanden sich Bilder und Zeichnungen aus jenem Blütenland. Sie kommt mir so ägyptisch-griechisch-japanisch vor, mir ist, als ob auch ich sie kenne, aus fernen Zeiten von weither. Jetzt Schluss mit dieser Tagesträumerei! Nun wird erst einmal Kaffee getrunken.

 

Somit erhebt sich unser himmelsstürmender Mondenerklimmer in seinem Nachthemd und steigt über seine in Unrast abgelegten Häute, öffnet die Türe und bückt sich nach dem Kaffeegeschirr. Und zum Tisch zurückgekehrt, ergreift er mit der einen Hand den bereitstehenden Rasierpinsel, während die andere das dampfende Schwarzgebräu in die Tasse giesst. Und nun erblickt er, mit schon weissgefärbter Schaumbacke, den goldenen, mit einem Edelstein verzierten Ring, auf einer Ecke des Tisches liegend. Er nimmt ihn in die Hand und hält die Goldrundung in die Höhe. Sie sagte mir, es sei ein kostbares Erbstück ihrer Grossmutter. Sie drückte es mir beim Abschied heute morgen, bevor sie in ein Taxi stieg, in die Hand. Es sei ein Liebespfand bis zu unserem nächsten Wiedersehen. Dann gab sie mir noch einen Kuss und liess sich in ihren Vorort fahren. Ja, diese wunderbare Zauberin! Sie hinterliess mir keine Adresse. Ich hatte sie gebeten, sie bald wiedersehen zu dürfen. Und sie schlug vor, uns am kommenden Samstag um drei Uhr im Monopterus zu treffen. Ich habe jenen Namen schon gehört. Was ist es wohl? Ein Ausflugscafé? Ich werde es schon finden.

 

Und unser “Verzauberter” seift nun die zweite Gesichtshälfte ein und beginnt mit dem Messer das Geschäum samt den darunter eingebetteten Stoppeln abzurasieren. Aber er muss immer an seine graugrünäugige Zauberin denken. Ist sie vielleicht die vom Schicksal mir Auserwählte? Haben am Ende gar die beiden Griechinnen aus Lesbos mit ihren Vorhersagen mir doch die Wahrheit gesagt? Gemäss ihren Prophezeiungen sollte ich ja meine “Zukünftige” auf jenem Faschingsfest treffen. Damit kann nur Maria gemeint sein. 0, nur nicht daran denken. Sonst schneide ich mich noch. Jedoch - es ist schon geschehen. Aber solche und auch andere Schnitte hätten nicht das angenehme Gefühl vermindert, das sich, weiterhin verstärkt, mit Wärme in seiner Bauchgegend kundtut, als ob dort einige Dutzend zarter und also angenehm sich anfühlender Ameisen krabbelten oder - man verzeihe uns, wenn wir der heiklen Suche nach dem Ungefähr-Entsprechenden wegen uns zu poetisch geben sollten - als ob sein Bauch eine Trommel wäre, in der Schmetterlinge, vielmehr noch treffender gesagt, Nachtfalter herumschwirrten und gar oft mit ihren Flügeln an das Bauchfell kitzelnd anstiessen.


Fräulein Geschwind: Herr Pfaff, im Empfangszimmer wartet ein Dichter. Er will Sie unbedingt sprechen. Ich habe ihn gestern auf dem Künstlerball gesehen. Er trug den über dreitausend kostümierten Anwesenden ein eigenes Gedicht vor. Es erhielt grossen Applaus. Und ich hörte auch einige Leute sagen, dass man gerne mehr von seinen Gedichten zu hören oder zu lesen bekommen möchte.

 

Pfaff: Liebes Fräulein Geschwind! Sie sind noch nicht lange hier. Aber ich habe Ihnen doch mindestens schon dreimal gesagt, dass Sie mir alle Dichterlinge schon im Vorzimmer abzuwimmeln haben.

 

Fräulein Geschwind: Ich weiss ja, Herr Pfaff. Aber wenn Sie diesen Dichter gestern miterlebt hätten, dann würden Sie ihn nun mit offenen Armen empfangen.

 

Pfaff: Wie heisst er denn, dieser Erfolgversprechende?

 

Fräulein Geschwind: Molar.

 

Pfaff: Ach, der ist’s! Sieh mal einer an! Er scheint zumindest auf Faschingsbällen populär zu werden. Ich lasse bitten! Um Gottes willen! Der will jetzt die achthundert Mark wiederhaben. Die habe ich doch schon längst “verbuttert” (ausgegeben). Ja, seinen Gedichtband soll ich drucken lassen. Davon setze ich höchstens ein paar Dutzend Exemplare ab. Aber er wollte mir ja achthundert Stück abnehmen. Mal sehen, wie wir uns arrangieren können. Molar, dieser Brünnhildenverführer! Ach, guten Tag, Herr Doktor! Gut, dass Sie wieder mal hereinschauen. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem grossen gestrigen Erfolg als eine Art poeta laureatus narretatusque des Münchner Faschingstrubels!

 

Molar: Guten Tag, werter Herr Pfaff! Ich bin sehr erfreut, Sie wieder aufsuchen zu können. Erst letzten Samstag bin ich wieder in München eingetroffen. Was macht mein Gedichtband?

 

Pfaff: Weiss er denn gar nicht mehr, dass ich ihm telephonischerweise eine Absage erteilt habe? Ja, ich habe mir schon Sorgen gemacht, wo Sie wohl stecken könnten, denn ich wollte dringend mit Ihnen darüber sprechen, welches Papier wir für den Druck verwenden sollten. Wissen Sie, Papier ist jetzt sehr teuer. Und wie ich es mir ausgerechnet habe, muss ich Sie leider nochmals um einen Vorschuss bitten, der natürlich später verrechnet werden wird. Wäre es Ihnen nochmals möglich, achthundert Mark für Ihr “Lebendiges Sein” vorzustrecken?

 

Molar: Aber selbstverständlich! Doch Sie müssen sich mit diesem Geld noch einige Tage gedulden. Wenn ich Ihnen also innerhalb der nächsten Woche das Fehlende vorgelegt habe, wie lange würde es dann wohl noch bis zur Fertigstellung dauern?

 

Pfaff: Es kann wohl Hochsommer werden.

 

Molar: Lieber Herr Pfaff! Versuchen Sie es bis spätestens Ende Juni verlegt zu haben, dass ich im Herbst schon Deutschland verlassen haben kann. Ja, was ich noch sagen will. Wir wollen für unseren Gedichtband das beste handgefertigte Büttenpapier wählen.

 

Pfaff: dassmüssen Sie mir aber noch fünfhundert Mark mehr vorschiessen.

 

Molar: Wird gemacht! Seitdem ich Marias Bild in mir trage, wird mir alles gelingen müssen.


Und als unser siegreicher Held wieder auf die Lindwurmstrasse hinaustritt, hat es in der Zwischenzeit zu stürmen angefangen. Der Hut fliegt ihm vom Kopfe, und der Hurtige setzt diesem nach.

 

Während der Feuersbrünstige mit wiedererhaschtem Hut zum Verleger Berghofer in der Thierschstrasse unterwegs ist, um bei ihm die für heute versprochenen, ersten fünfhundert Exemplare der “Festlichen Gaben” in Empfang zu nehmen, steigert sich der Sturm zu einem Orkan mit einer Windstärke von hundertzwanzig Stundenkilometern. Mehrere Bäume, die den Krieg mit Ach und Krach überlebten, werden umgeweht, und viele Mauern der Bombenruinen müssen mit Getöse und Stauben ihre Vertikale aufgeben, als ob die Windeschicker es sich ausgedacht hätten, alles Baufällige und Umwerfensgeweihte zu Fall zu bringen, damit aus der Erde eines neuen Deutschlands wieder eine heile Welt emporwachse. Und als unser schmetterlingsgekitzelter Dichter sich mit einer Aktentasche voller in Eile noch eben gefalteter Gedichte in den stürmischen Nachmittag wieder hinausgewagt hat und an der Strassenbahnhaltestelle ankommt - diesmal den Hut in der Hand haltend -, entdeckt er, dass kein Passant auf den leergefegten Strassen zu entdecken ist. Keiner will sich den Windsmächten aussetzen. Und nachdem er vergeblich auf die Strassenbahn gewartet hat und sich deshalb nun entschliesst, mit beschwerter Tasche den ganzen Weg zum Hauptbahnhof zu Fuss zurückzulegen - denn er will ja auf jeden Fall noch heute seine “Festlichen Gaben” “an den Mann bringen” -, erspäht er schon in der nächsten Strasse, dass die für die weiss-blaue Tram angebrachte elektrische Oberleitung von einem heruntergefallenen Ast zerrissen wurde. Doch unbeirrt schreitet unser Dichterstürmer gegen alle Winde an. Seine Gedanken sind bei seiner Maria. Und was bedeuten für einen Liebenden die äusseren Stürme des Lebens, wenn es in seinem Inneren tobt und “Ameisen” seinen Bauch auf angenehmste Weise kitzeln?

 

Somit besteigt er auf dem Bahnhof den nächstbesten Zug, um daselbst sein Verkäuferglück zu versuchen. Ja, wir, seine Glücksbereiter, begleiten ihn, diesen kühnen und siegreichen Rittersmann, dessen “Wiedersehen” mit der Geliebten wir beschrieben haben, doch auf deren Wiederwiedersehen sich unser gefalterter Dichter schon mit pochendem Herzen freut. Und heute spät zur Nacht, wenn er mit über sechshundert Mark Tageslohn in sein “Luna”-Zimmer zurückgekehrt sein wird, könntest du, lieber Leser, ihm vielleicht einen kleinen Vierzeiler zuraunen, den ich anlässlich seines heutigen inneren Sturmtages für ihn ausgesucht habe.

 

Die Liebe ist die grösste Macht.
Sie kann uns Riesenkräfte geben.
Sie ist’s, die in uns Lebensgeist entfacht.
Sie wird uns in den Himmel heben.


Ich würde gerne einmal einen Verleger inspirieren, das weiseste Buch herauszugeben.

 

Und was für ein Buch wäre das?

 

Es hätte vielleicht die Dicke unseres Buches, wäre aber gleich einer Schachtel innen hohl, worinnen sich jedoch Millionen Einzelbuchstaben, auf Papierecken gedruckt, befänden, die der Leser dann jeweils selbst auf Folien nach Wollen und Verstand zu kleben hätte. Denn dieses weiseste Buch wird für jeden Leser ein anderes sein, und somit sollte er es auch selbst zusammenstellen dürfen.

 

Dein Vorschlag mutet mich ein wenig sarkastisch an. Wenn ich mir vorstellen sollte, ein solches Buch, wie du es eben beschrieben, mir erst zusammensetzen zu sollen, dann würde ich nicht weit damit kommen wollen.

 

Bedenke, dass dieses Buch sich schon in deinem Kopfe befindet und dass dein Vorstellungsvermögen den Text im unterbewussten Sein mit unglaublicher Fixigkeit ständig zusammenstellt. Jeder schreibt sein eigenes Buch. Jeder ist “sein” Autor mit jeder Minute. Es ist das Buch, in welchem ein jeder später einmal lesen wird. Wir selbst sind unserer Vorstellung anheimgegeben, denn alles, was wir wissen, sehen, hören, fühlen, denken, schreiben wir in unser Lebensbuch. Und es wird immer dicker.

 

Warum inspirierst du nicht den Verleger Pfaff mit deiner Buchschachtelidee?

 

Pfaff? Er ist nicht originell genug, um genial zu sein.

 

Muss ein Schriftsteller auch Originalität haben, um genial zu sein?

 

Ohne diese wird ein Dichter oder Schriftsteller kaum seinen eigenen Ruhm - wenn er zu solchem überhaupt gelangen sollte - überleben können. Von dem Lübecker Romangiganten, Thomas Mann, einmal abgesehen, gibt es heute - wir befinden uns im Jahre 1949 - keine genialen Originale der Schriftkunst. Denn der Fehler der Autoren liegt eben darin, dass sie bei ihrer Suche nach neuen Einfällen und Darbietungsmöglichkeiten sich immer an schon vorhandenem Geschriebenen orientieren, nicht aber den Mut haben, aus diesen rück-ständigen Beschränkungen auszubrechen und die Möglichkeiten der eigenen Befähigung auszuloten wie auch vor allem die Steigerungsfähigkeit des Vorstellungsvermögens des Lesers miteinzubeziehen. Der Leser will mitmachen, nicht müssig bleiben.

 

Darin wenigstens teile ich deine Meinung.

 

Ein Originaldichter ist seiner Zeit um wenigstens hundert Jahre voraus.