Bei Erdbeertorte und Schlagsahne

Nach dem Kaffeetrinken fragt Lilia ihren Schwiegervater, ob er ihr nicht Photos der Familie zeigen könne, dass sie als seine neue Schwiegertochter sich sehr für die Familienbande interessiere. Der alte Apotheker schleppt drei Alben herbei und berichtet anhand der Bilder seinen beiden ihm zuhörenden Gästen. Besonderes Interesse schenkt die ihre linke Unterlippe oftmals einziehende und diese mit einem zirpenden Geräusch nach kurzem Aufblitzen des Goldzahns wieder zurückschnellen lassende Lilia (Was für eine „unerhörte“ Attributkonstruktion! Ja, manchmal ist es nötig, ein wenig Gold aufblitzen zu Iassen, besonders, wenn es sich in „anderer“ Munde befindet.) den Photographien, die den jungen und werdenden Hans Winfried in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen zeigen. Unter den vielen Bildern betrachtet sie auch eines, das Wahrfrieds achtundzwanzigjährigen Vater darstellt, der in der einen Hand ein Schmetterlingsnetz, zwischen dem Daumen und Zeigefinger der anderen aber einen gefalteten „Gefalterten“ siegreich emporgestreckt hält. „Dies ist eine Aufnahme, die auf dem Peleponnes gemacht wurde. Hans Winfried hatte versprochen, mir von seiner Balkan- und Griechenlandreise Exemplare der verschiedensten Schmetterlinge und Falter für meine Sammlung mitzubringen. So sprang er wohl manche Stunde in jenen wärmeren Breiten den Beflügelten nach. Als in einem griechischen Dorf die Bauern sein eilfertiges Bemühen, die leichtbeschwingten Buntflügler mit einem trichterförmigen Netz einzufangen, betrachteten, mochten sie bei sich gedacht haben, dass jener blond-blauäugige Ausländer sich anschicke, alle Lufttaumler aus ihrer Landschaft zu entfernen, und sie brachten ihre ‘rohe Entrüstung’, wie mein Sohn mir berichtete, dadurch zum Ausdruck, dass sie dem mit erhobenem Netz den Farbig-Beschwingten nacheilenden Häscher ebenfalls hurtigen Schrittes folgten, wobei sie mit Steinen nach dem unwillkommenen Schmetterlingsräuber warfen.“

 

Opa Bröckelberger ist ein grossartiger Erzähler, dessen Humor und, so dürfen wir sagen, „lebensweise Ironie“ auch durch das erst vor kurzem erfolgte Hinscheiden seiner auf vielen Photos abgebildeten Gemahlin, die, wie er scherzend bemerkt, in ihrer Ehe die „Hosen anhatte“ und ihm die „Pantoffeln“ zu tragen überliess, nicht gebrochen zu sein scheinen. Das heisst (um dir, meinem mir nahen, aber dem sprachlichen Geschehen vielleicht allzu fernen Leser ein wenig Aufhellung zu schaffen), sie übernahm die Rolle des herrschenden Hausherrn, während er nach und nach in die Position eines „leisetretenden“ Ehepartners gerückt wurde.

 

Und als dieser „Leisetreter“ nun eine neue Albumseite aufschlägt, erblickt seine Schwiegertochter ein vergrössertes Photo eines im Apothekergarten stattfindenden Essens, bei dem „Er“, der „Leibhaftige“, wahrlich zwischen der verstorbenen Else Bröckelberger und ihrer Tochter zu Tische sitzt. Tatsächlich! dasssitzt dieses Geschichtsmonstrum, der Verruchte, der das Unheil über Abermillionen von Menschen verheerend hereinbrechen liess. Was habe ich während „seiner“ zwölfjährigen Machtausübung oft um mein Leben zittern müssen, während die Bröckelberger Familie ein kummerloses und üppiges Leben führen konnte. Wessen Banner gleich einem ihm Glück verheissenden Planeten über allen Häuptern aufgezogen ist, der blickt frohen Auges nach oben und lacht dem Tag entgegen. Wehe aber dem, dessen Farben und Stern sich auf der Schattenseite der Erde versteckt halten müssen. Aber auch diese werden eines schönen Tages ihm wieder von der Höhe zuwinken, denn die Welt dreht sich, sie bleibt nie stehen.

 

Und die so in ihren Gedanken eingefangene Lilia wird jäh daraus aufgeschreckt, als sie Wahrfried den Grossvater fragen hört: „Lieber Opa, das ist doch der Onkel Adolf!“ „Aber Wahrfried“, so entfährt es der Empörten, „wie kannst du dieses Höllentier ‘Onkel Adolf’ nennen? Weisst du denn nicht, dass er über sechs Millionen Juden grausamst ermorden liess?“ „Aber Tante Heidrun und ihre Kinder nennen ihn doch Onkel Adolf ...“ „Ja, das verhält sich folgendermassen“, so schaltet sich jetzt der Grossvater dazwischen. „Der einstige Europamächtige kam 1935 auf einer Reise durch unser Dorf, wo ihm, ich möchte sagen,  a l l e  Bäringer vom Strassenrand oder von Fenstern und Balkonen freudig zuwinkten und Hakenkreuzfahnen schwenkten. Aber der Zufall wollte es, dass ein fataler Nagel zwei Reifen seines den anderen Wagen des ihn begleitenden Konvois weit vorausgefahrenen Führerwagens jeweils eine Schramme schuf, die sich als luftdurchlässig erwies und das Gefährt zum Halten brachte. Dies benutzte der so vom Schicksal Angehaltene, um, aus seinem Wagen steigend, viele Dutzende von Händen zu drücken und einige der herumstehenden Kinder auf den Arm zu nehmen oder über’s Haar zu streichen. Meine Frau, mit dem goldenen NSDAeP-Abzeichen auf der Jacke, bahnte sich durch die in Euphorie geratenen Umstehenden und stellte sich „ihrem“ „Befehlsherren“ mit Namen und Rang vor, worauf der Vielbegrüsste sich an ihre Person zu erinnern vermeinte und sich, dass es überdies gerade Mittagszeit war, auf ihr Ersuchen hin dazu breitschlagen liess, sich im Garten der Apotheke zu einer in gewisser Vorahnung schon bereitgehaltenen Terrine Erbsensuppe an den Tisch zu setzen, während die Reifen gewechselt beziehungsweise repariert werden konnten. Aber der „Allmächtige“, der anfänglich nur auf „einen Sprung“ herüber zum Essen gehen wollte, schien sich bei anschliessender Erdbeertorte und Schlagsahne derart gut gelaunt zu fühlen, dass er meiner damals fünfundzwanzigjährigen und noch unverheirateten Tochter Komplimente machte und ihr versicherte, dass ihre noch „den Sternen anheimgegebenen“ Kinder ihn einmal „Onkel Adolf“ nennen dürften, denn er erlaube sich, von einem ihrer Zukünftigen Patenonkel sein zu wollen. Aber zu dem eigentlichen Patenonkelakt ist es nicht mehr gekommen.“

 

Lilia: Das ist ja allerhand! Und wahrscheinlich wäre der „mörderische“ Grossmütige auch noch gerne Onkel seines eigenen Kindes geworden. Du solltest dieses Bild aus dem Album entfernen und es vernichten, denn entdecken es die Russen oder die Vopos (Volkspolizei) bei dir, wirst du bestimmt „abgeholt“ werden.

 

Bröckelberger: Mich holt bestimmt keiner mehr ab. Ich bin ihnen zu alt, und ausserdem bin ich als „unabkömmlich“ registriert, dassja irgend jemand die Apotheke zu leiten hat.

Lilia: Aber du leitest doch gar nicht, du wirst doch nur „gelitten“.

Bröckelberger: So scheint es. Aber der Schein trügt. Wenn ich nicht mehr in der Apotheke wäre, dann ginge hier alles drüber und drunter. Das wissen  d i e ganz genau. Nein,  d i e werden mich bestimmt nicht abholen. Meine Mottensammlung war mir damals viel wichtiger als Deutschland „umkrempeln“ oder, wie es hiess, in „seinem“ Geist erneuern zu wollen. Die Politik ist etwas Ephemeres, Kurzlebiges. Ich ziehe mir dass die Natur mit ihren Ewigkeitsrätseln vor.

 

Lilia: Wie kann man nur so passiv sein, wenn das Leben zum Mithandeln auffordert. Ich möchte wohl wissen, was wirklich bei diesem Hitlerbankett im Apothekergarten vor sich ging.


Du willst doch nicht etwa schon wieder themawechselnd zu einem neuen Kapitel übergehen?

 

Sollte ich nicht?

 

Warum blenden wir, die wir in unserer Vorstellung  dieses Menschheitsdramas alles zu vermögen scheinen, nicht zurück und belauschen ein wenig diesen Millionenschlächter und potenzierten Dschingis-Khan bei seinen Worten und Gedanken?

 

Das halte ich für eine gute Idee, doch warne ich dich, dass du in deinen vor-eingenommenen Erwartungen vielleicht zu sehr enttäuscht werden magst.


Else Bröckelberger am Tisch: Verehrter und vielgeliebter Führer! Wie geehrt fühle ich mich, Sie bei uns bewirten zu können. Wie gut, dass ich ausgerechnet heute eine Erbsensuppe bereitstehen hatte.

 

Hitler: Dann haben Sie sich, verehrte Frau Bröckelberger, wohl von der Vorsehung ein wenig leiten lassen, denn diese wusste es wohl einzurichten, dass der Nagel zwischen den Pflastersteinen zu liegen kam. Oder hat ihn etwa ein SPD-ler, Kommunist oder gar ein Jude dort aufgesetzt? Ich werde diesen Ort einmal durchsäubern lassen.

 

Else: Ja, ich erinnere mich an einen Ihrer Aussprüche, mein Führer, der in etwa so lautete: „Ich gehe meinen Weg mit der Sicherheit eines Schlafwandlers, den Weg, welchen mir die Vorsehung vorgezeichnet hat.“ Wie teilt sich Ihnen eigentlich diese Vorsehung mit?

 

Hitler: Das ist schwer zu sagen. Sie ist kein Glauben, sie ist mir Gewissheit. In den verschiedensten Stationen meines Lebens hat sie sich mir geoffenbart und mich von meinem Sendungsauftrag überzeugt und mich darin immer wieder bestärkt. Es sind Kräfte überirdischer Natur, die sich mir mitteilen und in deren Namen ich auf Erden wirke. Sie waren es auch, die mich in meinem ganzen Werdegang leiteten. Vielen Zeitgenossen, die sich mein „Geführtsein“ nicht erklären können, bleibt es ein nicht zu lösendes Rätsel, wie es hatte möglich sein können, dass ein Österreicher, ein Ausländer also, als der ich doch bis 1932 angesehen werden musste, mit so wenig höherer Schulbildung zum Führer des deutschen Volkes aufsteigen konnte. Die Vorsehung hat mich in allem geführt, weshalb es mich auch nicht wundernimmt, dass Sie, verehrte Mitkämpferin, wie rein „zufällig“ mir, dem Vegetarier, auf meiner Durchreise eine Erbsensuppe auftischen können. Aber mir sind, offen gestanden, jene Leute „duckmäuserisch“, die nur mir zuliebe sich ebenfalls vegetarisch zu essen verpflichtet fühlen. Jeder muss das zu sich nehmen, von dem er meint, es sei für ihn das Richtige.

 

Else: Warum, wenn ich fragen darf, sind Sie, mein Führer, Vegetarier?

 

Hitler: Zu töten ist mir ein Greuel. Wenn ich Getötetes esse, wird mir übel.

 

Herr Bröckelberger, der dem „Führer“ gegenübersitzt: dass ich nicht lache! Er hat doch bestimmt im letzten Krieg einige Feinde umgebracht. Umsonst erhält man doch keine Eisernen Kreuze. Wenn man Sie allerdings manchmal so gegen die Juden wettern hörte, hätte man meinen können, Sie seien gar nicht dagegen, sie „ausrotten“ zu lassen. Oder unterliege ich hierin einem Irrtum?

 

Else: Mein Mann stellt doch unverschämte Fragen! Der sollte sich über seine Mottensammlung beugen und seinen Kopf nicht in Politik stecken, die bekommt ihm nicht. Ich muss ihm diesen doch noch mal gehörig waschen (das heisst: ihm mit Nachdruck die Meinung sagen).

 

Hitler: Das Schicksal der Juden liegt in den Händen der Vorsehung. Was sie beschliessen wird, das soll geschehen. Denn meine Aufgabe ist es, der Vorsehung in allem Folge zu leisten.

 

Und als sich der Führer von der Tafel erhebt und den vielen Spähern, die durch die Gartenhecke schauen, freundlich zuwinkt, hebt er eines der Nachbarskinder, dem es gelungen ist, durch jene „natürliche“ Abschirmung zu kriechen und dem „Volkshelden“ einen Blumenstrauss zu überreichen, in die Höhe und fragt nach dem Namen der dreijährigen Blondbezopften. Er lässt sich dabei auch zeigen, was diese so krampfhaft in der anderen Hand verschlossen hält, und als jene sie zögernd öffnet, bietet sich auf der kleinen Handfläche ein Käfer dar, dem Flügel und Beinchen ausgerissen worden sind.

 

Hitler: Aber Charlotte, hast du etwa diesem Käfer Flügel und Beinchen ausgerupft? ... Das darfst du nie wieder tun. Man darf keinem Tier ein Leid zufügen. Versprich mir, dass du es nie wieder tust. ... Und du musst auch darauf achten, auf kein Tierchen zu treten. Sie alle haben das gleiche Recht auf Leben wie wir. Nur Ungeziefer muss man ausrotten. Aber was das ist, wird ihr später in der Schule beigebracht werden müssen.

 

Ich bin doch sehr entrüstet, um das Wenigste zu sagen! Er ist doch d e r  Wolf im Schafspelz sondergleichen.

 

Wenn du glaubst, dass wir ihm noch das Fell über die Ohren ziehen werden, so gehst du in deiner Annahme bestimmt nicht fehl. Jedoch werde ich es nicht zu gerben unternehmen, steht es mir zum einen nicht geschrieben, mich in dieser Hinsicht zu unterfangen, ist es mir zum anderen doch nur allzu bewusst, dass man im nachhinein immer nur der Gerber seines eigenen Felles sein dürfte.