Aus welchem Buch bin ich herausgefallen?

Auf dem Dachboden der mittleren Baracke kauert Wahrfried gleich neben der mit einer Leiter von aussen zu erklimmenden Luke und sortiert Maisblätter, indem er diese von ihren Strünken abtrennt und je nach Qualität entweder in den grossen, etwa sechzig Zentimeter hohen Weidenkorb oder auf den Reste- und Strunkhaufen linker Hand wirft. Das stundenlange Knien und Bücken strengt den Körper, das spärlich hereinfallende Licht aber die Augen an. Jedoch das Qualvollste ist die Tatsache, dass der Korb mit den eingesammelten Maisblättern nie voll zu werden scheint. Denn glaubt man ihn endlich voll zu haben, so ist er, drückt man die lose Fülle mit den Händen nach unten, sogleich wieder wie leer. Ja, Mami passt immer auf, dass er bis obenhin gedrückt voll ist. Das kann manchmal zwei bis drei Stunden dauern. Wenn ich mich dann endlich erhebe, zittern meine Knie. Ich traue mich dann gar nicht auf die Leiter. Hermann muss mir immer helfen, den Korb herunterzuholen. Und wenn ich den Korb in die Werkstatt gebracht habe und Mami ist mit meiner Arbeit zufrieden, dann geht sie in die Küche und schmiert mir eine Margarinestulle mit Salz. Ja, wir Kinder müssen uns unser täglich Brot erarbeiten. Wenn Hermann zehn Eimer Wasser geschleppt hat, bekommt er ein Stück Brot. Und wenn wir einen grossen Korb voll mit gesammeltem Holz meist von der anderen Seite der Schlucht angeschleppt haben, dann gibt es wiederum ein Stück Brot. Und für drei Meter Zopfflechten bekommen wir auch eine Scheibe Brot. Ich habe oft grossen Hunger. Ob Mami uns wohl extra so wenig zu essen gibt, damit wir desto härter arbeiten, um unseren Magen gefüllt zu bekommen? Ich habe sie heute gefragt, warum wir so viel arbeiten müssen, während alle anderen Kinder spielen dürfen. Und sie sagte: “Die anderen sind Faulpelze. Zu Karl Marx’ Zeiten, vor hundert Jahren, mussten fast alle Kinder arbeiten. Manche waren sogar in Bergwerken und Fabriken bis zu zwölf Stunden täglich beschäftigt. Im Vergleich zu denen habt ihr noch ein gutes Leben.” Gestern ist es mir endlich gelungen, zum Grab der Droste zu gehen, um ihr einen Strauss Schneeglöckchen zu bringen. Ob sie es wohl gesehen hat? Ja, die beiden ersten Strophen habe ich jetzt auch gelernt.

 

GELIEBTE, WENN MEIN GEIST GESCHIEDEN,
SO WEINT MIR KEINE tr ÄNEN NACH;
DENN WO ICH WEILE, DORT IST FRIEDEN,
DORT LEUCHTET MIR EIN EW’GER TAG!

 

Das ist so schön, so tröstlich. Ja, die Dichter müssen es ja wissen. Die besuchen ja öfter, wie Onkel Dörr sagt, den Himmel. Ob ich auch einmal Gedichte schreiben werde? Papi sagt, dass er nur bei starkem Kaffee dichten kann. Hat wohl die Droste auch starken Kaffee trinken müssen? Sollte ich auch einmal heimlich davon trinken? ... Auch die zweite Strophe ist schön. Aber die mit den Seraphsflügeln ist meine Lieblingsstrophe. Ja, ich habe den lieben Onkel nach dem Wort Seraph gefragt. Und er hat mir dann so wunderschöne Dinge erzählt. Was war das noch? Seraphen und Engel sind hohe Geistwesen. Sie haben keine Flügel. Doch manchmal erscheinen sie einigen Menschen auf Erden wie zum Beispiel der Maria, als einer von ihnen ihr die Geburt des Heilands ankündigte. Doch diese Engel scheinen aus der Luft zu kommen und sich dann wieder in diese zurückzubegeben. Sie schweben. Und dass wir Menschen denken, sie müssten darum Flügel haben, bindet unsere Phantasie sie diesen Lichtgestalten auf die Schultern. Was sagte der liebe Onkel: “Wir kurzsichtigen Menschen sehen alles durch unsere eigene Brille. Aber in Wirklichkeit sieht vieles ganz anders aus. “ Ja, so sagte er noch: “Geister können sich mit der Schnelligkeit von Gedanken bewegen und durch alle irdischen Mauern wie durch eine Wolkenwand hindurchgehen.” Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber ich bin ja noch jung und muss noch viel lernen. ... Ich werde erst einmal wieder die Blätter in den Korb hinunterdrücken müssen. ... Ach, er ist immer noch nicht viel voller. Vielleicht ist diese Arbeit nur eine grosse Geduldsprobe für mich. Wir gehen ja alle in die Schule des Lebens, um zu lernen und Prüfungen abzulegen, wie Onkel Dörr sagte. Vielleicht ist es eine meiner Aufgaben, Geduld zu erlernen.

 

Stimmt das?

 

Jawohl. Dies ist der eigentliche Sinn seiner maisbastsortierenden Arbeit. Wenn er die Lektionen der Geduld schon in früheren Leben gelernt hätte, dann bräuchte er diese jetzt nicht noch nachzuholen.

 

Du meinst, dann bräuchte er jetzt keine Körbe mit Bastblättern zu füllen?

 

Ganz recht.

 

Aber irgendwer muss doch diese Arbeit tun!

 

Es wäre wohl dann diese Arbeit einem anderen zugeteilt worden. Keiner verrichtet auf Erden eine Arbeit, die keinen Sinn für ihn hätte. Alles, und ich wiederhole, alles, was der Mensch auf Erden tut und träumt, hat einen tieferen Sinn. Etwas Sinnloses gibt es in Gottes Schöpfung nicht. Zwar ist es den Menschen nicht immer gegeben, den Sinn ihrer Tätigkeit oder gar Untätigkeit erfassen zu können. Aber eben dieser Umstand hat auch wieder seinen tieferen Sinn. Je höher wir als Geister aufsteigen, desto mehr Sinn wird uns offenbart werden, vor allem über unser Woher und Warum. Im nachhinein wird uns alles durchsichtig.

 

Erlaubst du, dass ich Wahrfried einmal “teste”?

 

Aber natürlich. Du brauchst mich hinfort auch nicht mehr zu fragen. Es ist ja u n s e r  Roman,  u n s e r  gemeinsames Werk. Somit hast du alle Rechte, die auch ich besitze. Ob du sie ebenso zu nützen weisst, ist deiner Vorstellung anheimgestellt.

 

Wahrfried: Hier. Ich habe wieder einen Maiskolben gefunden. Heute ist es schon der zweite. Gestern waren es ganze vier. Warum gibst du sie ab? Verstecke sie doch und röste sie dir an einem Feuer in der Höhle. Auf diese Idee bin ich noch gar nie gekommen. Ich soll etwas für mich behalten, was mir doch gar nicht gegeben worden ist und folglich mir auch nicht gehört? Nein, das wäre Diebstahl. Das kommt nicht in Frage. Lieber würde ich verhungern. Ja, ich habe jetzt auch Hunger. Vielleicht bin ich in einer Stunde mit meiner täglichen Maisblattaussortierung fertig und darf in einen Knust beissen. Heute in der Schule, dasshat der Koster wieder ordentlich Tatzen verteilt. Auch Mechthild hat vier Stockschläge auf die Finger bekommen, weil sie einige Minuten zu spät gekommen ist. Andere Kinder hatten sie auf dem Schulweg angerempelt, und dabei ist ihre Brille zu Boden gefallen, die sie nicht gleich hatte ertasten können. Aber Koster liess keine “Ausreden”, wie er die Wahrheit nennt, gelten. Mami ist ja auch so streng mit uns. Jetzt hat sie uns verboten, mehr als zweimal am Tag zur Plumpstoilette (man sitzt dort auf Brettern, in die man ein rundes Loch gesägt hat) zu gehen, denn, wie sie sagt, dulde sie keine “Drückebergerei”. Jetzt müssen wir uns halt öfter hinter einen Baum begeben. Ja, je länger Papi wegbleibt, desto böser wird Mami uns gegenüber. Hoffentlich kommt er bald. Ohne ihn fühlen wir uns wie verlassen. Jetzt gibt sie mir öfter einen Klaps, wenn ich sie in die Stadt begleiten muss und sie entdeckt, dass ich beim Gehen die Fussspitzen nach innen gekehrt habe. Sie will immer, dass ich alles richtig und besser mache als die anderen. Warum ist sie wohl gerade auf mich so achtsam? Ich wünschte, ich hätte mehr Freizeit und könnte mehr spielen oder auch den lieben Onkel unter mir öfter besuchen. Er sagte mir beim letztenmal, dass Gott der grösste Dichter und seine ganze Schöpfung ein einzigartiges, vielbändiges Meisterwerk sei. Aus welchem Buch bin ich herausgefallen? Vielleicht ist es meine Aufgabe, dieses Buch zu finden und dort wieder hineinzuschlüpfen. ... Ja, gestern abend, als Edelgard schon eingeschlafen war, dasshörte ich durch die Bretterwand, wie Tante Heidrun und Tante Rosa laut miteinander redeten. Sie sprachen von der “Kommunistensau” nebenan, die bestimmt eine Jüdin sei. Meinen sie etwa Mami damit? Was ist eine “Jüdin”? Man hält so viele Dinge vor uns geheim. Warum wohl? Und später dann sagte Tante Heidrun: Es ist ein Verbrechen gewesen, sie nicht “mitvergast” zu haben. Was meint sie mit diesem Wort? Ich muss doch mal bei nächster Gelegenheit meinen lieben Onkel fragen.

 

Ist es etwa auch kein Zufall, dass er gestern jenes Wort gehört hat?

 

Auf keinen Fall. Ich habe die beiden Freundinnen nebenan - ihnen unbewusst natürlich - veranlasst, recht vernehmlich zu sprechen, zur gleichen Zeit aber unseren kleinen Wundermann in die Position des gespannt Lauschenden versetzt. Es ist nun an der Zeit, dass er ein wenig mehr über die vielen Wahrheiten erfährt, die ihm sein blinder Mentor mit Geduld und einfühlendem Verständnis darzulegen gewillt ist.