Auch Ihnen wünsche ich einen erfreulichen Kehraus

Am letzten Februarsamstag kommt Molar in dem noch vom Faschingsweben „heimgesuchten“ München an und wählt sich für dieses Mal eine bescheidenere Pension in der Nähe des Englischen Gartens, denn er hält sich noch nicht für finanzkräftig genug, seine Bastschuhe im Hotel Grünwald einzulösen und auf weiteres dort wieder wohnen zu können. Am Sonntag morgen begibt er sich, mit einem grossen Strauss roter Rosen versehen, zu Hildes Einzimmerwohnung. Er läutet und wartet und läutet und wartet und läutet.

 

Als er sich enttäuscht wieder der Treppe zuwenden will, öffnet sich doch noch die Türe, und seine verehrte blonde Venus steht im Bademantel vor ihm, das Haar in der Eile nur flüchtig gekämmt: „Ach du bist es, Moli! Ich habe leider Besuch, sonst würde ich dich gerne hereinbitten. Verzeih, dass ich dich nur so kurz und in solchem Aufzug begrüssen und sprechen kann.“ „Liebste Hilde! Darf ich dir diesen Blumenstrauss überreichen?“ „Lieber Moli, nimm es mir bitte nicht übel. Aber ich kann ihn nicht annehmen. Mein neuer Freund ist sehr eifersüchtig. Er arbeitet beim Film und hat Beziehungen nach Hollywood. Er hat mir versprochen, mich im Sommer mit nach Kalifornien zu nehmen und mir dort eine Rolle zu verschaffen. Sag, freust du dich mit mir über mein Glück?“

 

Molar: Ja, schon. Aber... ich möchte dich gerne wiedersehen, denn ich habe mit dir vieles zu bereden. Ich habe nämlich ein Angebot erhalten, als Ölexperte und Plantagenverwalter nach Madagaskar auszuwandern, und wollte dich bitten, als meine Sekretärin mitzukommen. Auf jener Insel gibt es keinen Krieg. Sie ist das „reinste“ Paradies.

 

Hilde: Du willst mich irgendwo zu den Hottentotten verschleppen? Nein, ich bleibe in der fortschrittlichen Welt und werde Filmschauspielerin und keine meerumbrandete Ölnixe. Ausserdem gibt es in Hollywood den Krieg nur als Fiktion im Filmstudio und paradiesisch kann man dort ebenfalls leben, auch wenn es nicht immer ganz „rein“ zugeht. Aber ich werde mich schon durchzusetzen wissen. Man dreht dort so viele Filme über den letzten Krieg und benötigt deutsche Schauspieler, die in gebrochenem Englisch die „bösen“ und „brutalen“ deutschen darstellen müssen. Denn die Sieger sind immer die Guten, und die Verlierer immer die Schlechten. Ich werde bestimmt eine Rolle als deutsche Geheimagentin oder als „reinrassische“ Brünnhilde in einem „Lebensborn-Film“ erhalten können. Ich setze mich schon durch und werde noch einmal eine berühmte Filmdiva.

 

Molar: Ach, das freut mich für dich. Zugleich bin ich doch sehr betrübt, denn ich habe mich so darauf gefreut, dich wiederzusehen.

 

Hilde: Pst! Spricht nicht so laut! Du könntest meinen Freund wecken.

 

Molar: Hat Herr Pfaff über meinen missglückten Anruf mit dir gesprochen?

 

Hilde: Na, dasshast du ja etwas ganz Verteufeltes angerichtet. Er hat mir noch am gleichen Tag, als ich von der Post zurückkam, gekündigt. Er war so wütend, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Du musst wissen, dass er auf mich, obwohl er verheiratet ist und drei Kinder hat, nicht nur ein, sondern beide Augen geworfen hat und mich immer überreden wollte, mir hier einen Besuch abstatten zu dürfen. Aber ich hatte ihn jedesmal „abblitzen“ lassen (d.h., sie ist auf seine Wünsche nicht eingegangen). Als er nun aber erfuhr, dass einer seiner in seinen Augen „armseligen“ Autoren mich anscheinend gleich im Sturm erobern durfte, war er ganz aufgebracht. Er nannte mich deine „Dichterhure“.

 

Molar: So eine Frechheit! Das tut mir aber bitter leid.

 

Hilde: Ach, ich bin dir sogar für meinen durch dich veranlassten Rausschmiss im nachhinein dankbar. Denn als ich noch vor Ärger über alles mit feuchten Augen im Park sass, setzte sich ebenjener neue Freund und Filmagent neben mich und wischte mir schliesslich die Tränen ab und gab mir so viele neue Hoffnungen, dass ich sogar bald wieder lachen musste. Ja siehst du, das augenblicklich Widerwärtige im Leben zeigt doch oftmals im nachhinein sein Gutes. Ich werfe dir überhaupt nichts vor, im Gegenteil, Moli, ich möchte dir noch einen Dankeskuss geben.

Somit tritt sie nun ganz aus der bisher nur halbgeöffneten Tür und küsst den ganz hilflos, enttäuscht und unglücklich Dastehenden auf die Lippen.

 

Hilde: Übrigens suche den Herrn Pfaff nochmals auf. Sein Ärger wird sich bestimmt schon längst gelegt haben, und sein Respekt vor dir - nicht nur als Dichter, sondern als Herzenseroberer - wird sich auf jeden Fall erhöht haben. Schliesslich hast du ihm doch schon achthundert Mark „vorgestreckt“. Morgen ist der letzte Künstlerball im Haus der Kunst. Warum besuchst du ihn nicht, du, der du ein wirklicher Künstler bist, und lachst dir auf diesem kostümierten Faschingsfest gleich ein neues Mädchen an? Das sollte dir als gutaussehendem und charmantem Herzensbrecher doch wohl nicht schwerfallen. Du kannst meine Eintrittskarte haben, dassBill und ich zu einem Maskenball im Filmstudio geladen sind. Warte, ich hole dir die Karte!

 

Molar: Soll ich denn wirklich dieses Prachtmädchen nie wieder in meinen Armen halten und mit Mund und Seele küssen dürfen? Was mache ich jetzt mit meinen teuren Rosen?

 

Hilde kommt zurück und übergibt ihm die Karte: Lieber Moli, ich schenke sie dir. Sei nicht mehr traurig. Vielleicht lernst du auf dem Künstlerfest die Richtige kennen. Ich muss an meine Karriere denken. Wenn ich später einmal eine berühmte Filmschauspielerin in Hollywood bin, musst du von deiner Ölinsel aus mich besuchen kommen. Vielleicht probierst du es dann auch einmal beim Film, denn ich könnte mir denken, dass du ein guter Darsteller deines eigenen Lebensdrehbuches sein könntest.

Stimme von drinnen: Sweetheart, where are you?

 

Hilde: Billy ruft. Leb wohl, Moli. Und hab viel Spass beim morgigen „Künstlerkehraus“ (Kehraus nennt man in München den Faschingsabschluss).

 

Somit küsst sie den noch immer ungläubig verdutzt mit seinen Rosen in der einen und dem Eintrittsbillett in der anderen Hand dastehenden, bitterlich enttäuschten Rosenkavalier, der sich nun langsamen Schrittes anschickt, die Treppe hinunterzutapsen: Ach, ich könnte heulen vor Verzweiflung. Wie sehr habe ich mich nach ihrem nackten Körper gesehnt, ihren Küssen, ihrem Lächeln, ihrem Streicheln, dem Duft ihrer Loreleihaare. Dies alles soll jetzt auf einmal für immer von mir genommen sein? Aber, was sagte sie noch? Das Widerwärtige beinhalte oft das im nachhinein sich einstellende Angenehme. Ja, ich weiss schon: per aspera ad astra! Doch trog ich mich selbst in der Hoffnung, dass sie vielleicht schon mein irdischer Glücksstern sein könnte, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht liebte, sondern mich nur als ein kurzweiliges Abenteuer ansah. Nur nicht verzagen! Ich werde schon noch zu meinem Stern gelangen und glücklich sein. Ob er mir wohl noch auf Erden begegnen wird? Nun, es steht in den Sternen geschrieben, oder sollte ich besser sagen: in meinem mir vorgezeichneten Lebensbuche?


Und als unser nicht „über die Schwelle“ geschrittener chevalier à la rose sich wieder auf der Strasse befindet und alsdann seine Schritte der nächsten Strassenbahnhaltestelle zuwendet, kommt er an einem Altersheim vorbei, das an einen kleinen Park grenzt, in welchem eine Anzahl der vom Lebenspuls Zurückgedrängten auf den vielen Bänken Platz gefunden hat. Und unser „versetzter“ Charmeur wird unseres ihm eingegebenen Gedankens gewahr und schreitet dementsprechend von Bank zu Bank und überreicht den ersten zwölf Grossmütterchen je eine blutrote Rose, verbunden mit einem: „Auch Ihnen, gnädige Dame, wünsche ich einen erfreulichen ‘Kehraus’!“. Die „gnädigen“ Damen verstehen und sind sehr erfreut über diesen charmanten Gratulanten. dass es sich meist so verhält, dass gute Taten der Liebe Gegenliebe und Freude erzeugen, so bewirken letztere in unserem Falle wiederum, dass das Herz unseres Blumenverteilers nach geschehener Prozedur schon wieder glücklicher und hoffnungsfroher schlägt. Seine Gedanken scheinen dem heutigen Tag „ade“ gesagt zu haben, dass sie sich schon allzueifrig mit dem morgigen Rosenmontag beschäftigen. Er besieht sich seine Eintrittskarte und liest: „Venezianische Nacht - Faschingsfest sämtlicher Künstlergruppen - Haus der Kunst“. Ja, der morgige Tag ist der Höhepunkt aller karnevalesken Narreteien. Als was soll ich also zum Kehrausball gehen? Als ölpalmzweigschwingender Friedensverkünder? Nein. Als lorbeerbekranzter homo Homeros? Auch nicht. Auf jeden Fall muss ich zum Kostümverleih und mir dort die richtige Eingebung zuteil werden lassen. Ja, ich sollte auch ein Faschingsgedicht anfertigen und, wie es sich für einen echten dichtenden Künstler wie mich auf einem Künstlerfest gehört, meine Kunstfertigkeit auch auf dem humoresk-närrischen Gebiet unter Beweis stellen und das in Reimen Gefasste den zum Heiteren aufgelegten Kunstbeflissenen zukommen lassen, indem ich auf jeden Tisch einige gedruckte Exemplare lege. Morgen muss ich sowieso zum Drucker, um meine ersten „Festlichen Gaben“ abzuholen. Ich werde ihn fragen, ob er mir noch „auf die Schnelle“ zweihundert „molareske Faschingsgrüsse drucken könnte. Das wird schon gehen. Auch wenn ich ein wenig mehr bezahlen muss. Nun, so will ich mich gleich in mein Zimmer begeben und ein Faschingsgedicht anfertigen. Hoffentlich wird mir etwas Witziges einfallen. Möge mein mich inspirierender Geist auch Spass an Spässen haben.